Wie eine ganze Fabrik nebst Belegschaft 1946 aus Bleicherode ins ferne Russland verschwand
Am 22. Oktober 1946 klopfte es gegen 5.30 Uhr in Bleicherode an über 150 Türen. Am Abend zuvor hatte die sowjetische Militäradministration die Deutschen ins Waldhaus eingeladen, natürlich mit viel Wodka. Nun standen die gleichen Offiziere in den Wohnungen der Raketenspezialisten und lasen ihnen den Potsdamer Vertrag vor. Als Reparationsleistung an die Sowjetunion, hieß es im Befehl, sollten sie fünf Jahre lang in der Sowjetunion arbeiten. Ab sofort.
Damit hatte niemand gerechnet. Waren doch die Leute, um die es ging, bisher von den Russen gehätschelt worden. Während der Großteil der Bevölkerung hungerte, hatte man für ihre Versorgung ein ganzes Gut in Trebra bei Bleicherode konfisziert. Die Arbeitsverträge und die Entlohnung stimmten. Man hatte Arbeit. Wie früher. Die Zentralwerke mit bis zu 6000 Beschäftigten konstruierten und bauten Raketen. Da die Amerikaner bei ihrem kurzen Gastspiel alles an Menschen und Material mitgenommen hatten, was zur Produktion der V2 im KZ Dora und Umgebung zu finden war, mussten die Russen improvisieren. Sie suchten Konstrukteure aus der zweiten Reihe und lockten mit Spitzengehältern Spezialisten aus der Westzone nach Bleicherode.
Mit Erfolg: Sogar Helmut Gröttrup, Stellvertreter Wernher von Brauns, kam. Und mit dem Forschungsinstitut Rabe in Bleicherode und den Zentralwerken im benachbarten Kleinbodungen wurde (gegen den Posdamer Vertrag) auf deutschem Boden schon 1945 ein neuer Rüstungsbetrieb aus dem Boden gestampft. Die Hoffnung, das Bleicheröder Werk könne ewig existieren, war deshalb trügerisch. Irgendwann wäre der Verstoß gegen die Alliiertenrechte bemerkt worden. Und irgendwann wollten die Russen selber Raketen produzieren, zu Hause.
Und so gab es Stalins Befehl für den 22. Oktober, alle Werke und die wichtigen Konstrukteure und Techniker in die Sowjetunion zu bringen. Aus Bleicherode und den Zweigwerken in Sömmerda, Nordhausen, Sondershausen und Lehesten, auch aus Jena und Dessau. Überall dort wurde heimlich an Raketen, Triebwerken und Waffen gebastelt. Vor den Häusern standen Soldaten und Lastkraftwagen, um eine Flucht unmöglich zu machen und die wichtigste Habe aufzuladen, sagt der Bleicheröder Bauingenieur Gunther Hebestreit, Mitverfasser des mittlerweile vergriffenen Buches „Raketen aus Bleicherode“.
Was die wichtigste Habe war, wurde recht großzügig ausgelegt. Frau Gröttrup durfte ihre Reitpferde mitnehmen, eine Schwangere wurde ins Nachbardorf gefahren, weil sie dort noch einen Umstandsmantel bestellt hatte. Frauen, Kinder und Großeltern durften mit. Betroffene von damals wie der später in Stuttgart tätige Wissenschaftler Kurt Magnus berichten von skurrilen Auswüchsen. Ein Ingenieur wohnte bei einer Kriegerwitwe mit zwei Kindern nur zur Untermiete, aber Vermieterin und Kinder wurden trotz Protestes einfach mitgenommen. Einem Junggesellen wurde sogar angeboten, er möge doch irgendeine Frau aus dem Ort benennen, mit der er in Russland zusammenleben möchte; sie würde dann für ihn abgeholt werden.
Am nahe gelegenen Bahnhof Kleinbodungen, von den Russen abgeriegelt, stand ein Personenzug bereit. Ein Abteil für jede Familie, Hab und Gut wurden in angehängten Güterwagen transportiert. Es war eine Verschleppung, sagt Hebestreit. Aber unter Bedingungen, die sich deutsche Kriegsgefangene oder Stalin-Opfer dieser Zeit erträumt hätten.
Die Bleicheröder kamen erst nach vielen Tagen Bahnfahrt an ihrem Ziel an. Auf Godomlija, einer kleinen Insel im Seeliger-See, auf halber Strecke zwischen Moskau und Petersburg. An den Türen ihrer von deutschen Kriegsgefangenen nach europäischem Standard hergerichteten Häuser standen bereits ihre Familiennamen.
„Deutsche arbeiten nur gut, wenn sie sich wohlfühlen und ihre Familie dabei haben“, hat ein hoher sowjetischer Geheimdienst-Offizier damals die aufwändige Aktion gerechtfertigt. Und der Plan der Russen ging auf. Die Deutschen arbeiteten einfach weiter. Zum Teil an den gleichen Werkbänken, an denen sie schon in Bleicherode standen. Und zu Gehältern, die nach Aussage eines Beteiligten nicht einmal sowjetische Minister bekamen. Am 18. Oktober 1947, nicht einmal ein Jahr nach der Ankunft, startete vom russischen Raketenzentrum Kapustin Jar die erste Fernrakete, entwickelt hauptsächlich von Deutschen und zu Teilen noch in Kleinbodungen hergestellt.
Als Belohnung gab es an diesem Tag Geldprämien und viel Alkohol. Es war der Wendepunkt, immer mehr Russen nahmen nun die entscheidenden Plätze ein. Ab 1950 dann durften die deutschen Spezialisten gar nicht mehr arbeiten. „Abkühlungsphase“ nannten die Russen die verordnete Tatenlosigkeit. 1952 begann der Rücktransport nach Deutschland. Wer wollte, durfte sogar in den Westen. Der Preis dafür war nur eine längere „Abkühlung“.
Nach Bleicherode ging keiner zurück, sagt Gunther Hebestreit. Und die Zeit, in der in der Kleinstadt die Grundlagen für die Weltraumfahrt geschaffen wurden, ist fast vergessen. Denn auch Wernher von Braun, der später den Amerikanern zu Diensten war, hat zu Kriegsende in Bleicherode geforscht. Im Kalten Krieg hatte wohl keiner Interesse, die Geschichte weiterzuerzählen. Sie passte einfach keiner Seite ins ideologische Schubfach.