Der verschwundene Wein

Das neue Lesebuch unseres Geschichtsvereins ist rechtzeitig vor Weihnachten erschienen, mit vielen Beiträgen über die Historie nicht nur von Arnstadt. Ich durfte wieder einige Geschichten beisteuern, darunter auch diese leicht alkoholisierte. Prost!

Es soll noch immer Leute geben, die daran glauben, dass das legendäre Bernsteinzimmer zum Ende des 2. Weltkriegs in die Gegend um Arnstadt gebracht wurde und seitdem unentdeckt in einer tiefen Höhle schlummert. Gefunden wurde bislang nichts.

Allerdings gab es im Jahr 1945 tatsächlich einen Schatz, der in einem Keller unterhalb der Alteburg schlummerte: 124 Kisten mit 6200 Flaschen edlen Weines aus besten deutschen Lagen, allesamt Jahrgang 1943. Ein gutes Weinjahr, wie man den Chroniken entnehmen kann. Die teuersten Flaschen wurden mit 12 Reichsmark gehandelt, ein für damalige Verhältnisse stolzer Preis. Deponiert wurden sie 1944 in Arnstadt im Keller eines einheimischen Gemüsegroßhändlers von der Mainzer Firma Heinz Bonn.

Der Mainzer Weingroßhändler gab später an, er habe diesen ziemlich großen Posten guter Tropfen wegen „Ausbombung seiner Firma“ 1944 in dem Keller der ehemaligen Bahlsen-Brauerei vor dem Riedtor in Arnstadt untergestellt. Nach einer Zeugenaussage des Gemüsegroßhändlers Franz Seidel stand der Wein seitdem
„unangetastet“ in seinem Keller – bis zum Kriegsende, als die Amerikaner kamen.

Die fanden zwar den Wein in Seidels Keller, hatten aber offenbar keinen großen Durst. „Von den amerikanischen Truppen wurden circa sechs Kisten entnommen“, gab Seidel vor dem Polizei-Direktor des 1. Polizeireviers Arnstadt zu Protokoll. Der Rest, immerhin noch 118 Kisten, sei weiterhin „unangetastet“ geblieben, auch nach dem Wechsel der Besatzungsmacht.

Erst mehrere Monate, nachdem die Sowjetarmee in Arnstadt einmarschiert war, wurde Gemüsegroßhändler Seidel in Arnstadt auf der Straße von einem ihm bis dahin unbekannten Mann angesprochen, so erzählte er es in seiner Vernehmung durch die
Polizei. Der Unbekannte habe sich als Fritz Seiferth vorgestellt und Seidel auf den Kopf zugesagt, dass sich in seinem Keller reichlich Wein der Firma Heinz Bonn aus Mainz befinde. Dieser sei nun für die sowjetische Besatzungsmacht beschlagnahmt, eröffnete Seiferth dem verdutzten Gemüsegroßhändler.

Schon am nächsten Tag kam Seiferth mit einem russischen Offizier namens Sarokin und einem Lastwagen in die Bahlsen-Brauerei und holte 60 Kisten Wein ab. So Seidels Aussage bei der Polizei.
Aber warum nur 60 Kisten, wo doch fast doppelt so viele da waren?
Weil Gemüsegroßhändler Seidel getrickst hat, wie er vor der Polizei später zugab. Gewarnt durch das Gespräch mit Seiferth hatte er etwa 58 Kisten Wein hinter Obstkisten versteckt – in der Hoffnung, dass sich die Besatzungsmacht mit den 60 Kisten zufriedengeben möge, die er den Abholern offen präsentierte. Und die Sache
schien zu klappen.

Ob Seidel den Rest für den Besitzer, den Weinhändler aus Mainz, retten wollte – oder vielleicht eine Chance für einen eigenen guten Deal witterte, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls konnten die der Besatzungsmacht vorenthaltenen edlen Tropfen nicht in der Bahlsen-Brauerei bleiben, das wäre zu auffällig
gewesen. Aber wohin damit?

Da fiel dem Gemüsegroßhändler ein guter Bekannter ein, der Fleischermeister Otto Herda. Der hatte nicht nur einen Lastwagen, sondern auch eine zeitweilige Niederlassung im Gasthaus „Zum roten Hirschen“ in der Rosenstraße. Dorthin sollte der Wein gebracht werden, beschlossen Seidel und Herda. „Die Verlagerung ging vollständig geheim vor sich“, sagte Seidel später bei der Polizei. Doch er sollte sich geirrt haben.

Denn einige Zeit später taucht Fritz Seiferth, der „Einkäufer“ der sowjetischen Besatzungsmacht, bei Fleischermeister Herda auf und überraschte ihn mit der Information, dass bei ihm der „Rest“ des Weines aus der Bahlsen-Brauerei lagern würde. Herda und Seiferth kannten sich übrigens, so steht es jedenfalls in Herdas Zeugenaussage bei der Polizei. Und dort steht auch folgender Satz von Fleischermeister Herda: „Da ich keinerlei Veranlassung hatte, die Einlagerung des Weines einem Beauftragten einer russischen Dienststelle zu verschweigen, sagte ich zu Seiferth, dass der Wein im Roten Hirsch liegt.“

Damit war der Schwindel endgültig aufgeflogen.

Offenbar erzählte Fleischermeister Herda dem Gemüsegroßhändler Seidel umgehend von seiner Beichte, denn die folgende Nacht verbrachten beide (nach übereinstimmenden Aussagen) in Herdas Wohnung – mit freiem Blick auf den „Roten Hirsch“. In den Morgenstunden beobachteten sie dann, wie dort ein Lastwagen vor- und den wertvollen Wein „restlos abfuhr“. So steht es in Herdas Aussage bei der Polizei.

Ab da verliert sich die Spur des edlen Weines. Ob er die wodkagestählten Kehlen russischer Offiziere durchlief, als deutsches Kulturgut in die Sowjetunion gebracht wurde oder einige deutsche Schwarzmarkthändler noch etwas glücklicher machte,
wird sich wohl nie klären lassen.

Die Beschlagnahme des Weines muss sich Ende 1945 abgespielt haben, wie sich die Beteiligten bei ihrer Vernehmung durch die Arnstädter Polizei erinnern. Der Besitzer, der Weingroßhändler Bonn aus Mainz, erfuhr aber nichts davon. Er habe sich auch nicht nach dem Wein erkundigt, sagte Seidel bei der Polizei aus. Erst etwa ein Jahr später, im November 1946, fragte der Weingroßhändler offenbar nach, wurde mit der Tatsache des Verlustes konfrontiert und schaltete die Polizei ein.

Das mag aus heutiger Sicht eigenartig erscheinen, schließlich lebte Weinhändler Bonn in einer der „Westzonen“ und die Arnstädter Polizei befand sich in der sowjetischen Besatzungszone. Doch die Zusammenarbeit muss reibungslos funktioniert haben, auf die Anfrage des Weinhändlers hin vernahm der Arnstädter Polizeidirek-
tor alle drei Beteiligte: Seidel als Kellerbesitzer, Herda als „Helfer“ und auch Seiferth als „Einkäufer“ für die Besatzungsmacht. Die beiden Protokolle der Vernehmungen von Seidel und Herda wurden dem Weingroßhändler sogar per Abschrift nach Mainz geschickt, nur die von Seiferth behielt man lieber für sich.

Eigentlich hätte dem Weinhändler in Mainz nach der Lektüre der Protokolle klar gewesen sein, dass er wohl gegen die „Beschlagnahme“ seines Weines durch die Besatzungsmacht nichts ausrichten konnte, aber er machte dennoch einen interessanten Versuch: Er stellte dem Arnstädter Oberbürgermeister den Wein in Rechnung. „Ich gestatte mir beiliegend Rechnung über diese Weine zu behändigen und bitte Sie den Betrag durch das Besatzungsamt Arnstadt auf mein Konto bei der städtischen Sparkasse Mainz überweisen zu lassen“, schrieb Bonn am 26. Februar 1947.

Hier der erhaltene Rechnungstext:

Firma Heinz Bonn, Bauhofkellerei und Weingroßhandlung Mainz
Rechnung vom 26. Februar 1947
An den Herrn Oberbürgermeister der Stadt Arnstadt, Besatzungsamt
Zufolge Ihres geschätzten Auftrags empfangen Sie für Ihre Rechnung und Gefahr unversichert aus meinem Lager Heissner & Co, Arnstadt, für die russische Besatzungsarmee
1600 Flaschen 1943er Manubacher Grube Spätlese je 3 Reichsmark (RM)
1600 Flaschen 1943er Niersteiner Schmitt natur Sylvaner je 3,50 RM
600 Flaschen 1943er Oestricher Kerbesberg, Riesling. Spätlese je 3,75 RM
500 Flaschen 1942er Ockfener Bockstein Riesling natur je 6 RM
500 Flaschen 1943er Oppenheimer Saar Riesling Spätlese natur je 3,50 RM
800 Flaschen 1943er Hattenheimer Berweg Riesling natur feine Beerenauslese je 12 RM
600 Flaschen 1943er Manubacher Retz Riesling Spätlese natur je 3 RM

(Schreibweisen laut Rechnung)

Außerdem stellte Bonn für 123 Kisten 471,20 RM, für 6200 Hülsen 155 RM und für 6200 Flaschen 1116 RM in Rechnung. Die Gesamtsumme belief sich damit auf 30 542,20 RM. Das war wahrscheinlich mehr, als der Arnstädter Oberbürgermeister damals zum Monatsende noch in der Stadtkasse hatte.

 

Entsprechend unwirsch fiel die Antwort aus Arnstadt aus, die auch nicht vom Oberbürgermeister, sondern aus dem Hauptamt stammte. Bei der Sache mit dem Wein handele es sich um eine „rein geschäftliche Transaktion zwischen Ihnen und der russischen Besatzungsbehörde“ hieß es in dem Brief an Bonn. Der Weinhändler
solle doch die Rechnung „an diejenige russische Dienststelle einreichen, die den Wein bei Ihnen gekauft hat“.

Es gab daraufhin noch einen Widerspruch aus Mainz, dass für Requirierungen durch die Besatzungsmacht die deutschen Dienststellen aufkommen müssten und ein Antwortschreiben aus Arnstadt, dass dem nicht so sei.

Das letzte Schreiben aus Mainz, das sich in der Akte befindet, stammt vom 20. Juni 1947. Darin betont der Weinhändler Bonn, dass er seinen Anspruch an die Stadt Arnstadt so lange aufrechterhalten wird, „bis ich diejenige Stelle gefunden habe, die als verantwortlich bezeichnet wird“.

Es ist zu vermuten, dass er keinen Erfolg hatte.

Anmerkung:
Diese Geschichte habe ich nicht selbst ausgegraben, sondern sie wurde mir „mundgerecht“ serviert. Andrea Kirchschlager, die Leiterin unseres Stadt- und Kreisarchivs, legte diese Akte neben vielen anderen zum „Tag des offenen Archivs“ am 2. März 2024 aus, der sich dem Thema „Essen und Trinken“ widmete. Vielen Dank dafür.

Das neue „Heimatkundliche Lesebuch aus der Vergangenheit von Arnstadt und Umgebung“ (Band 33) kann in der Arnstädter Buchhandlung in der Erfurter Straße oder in der Tourist-Information auf dem Markt erworben werden. Es hat 255 Seiten und kostet 19,50 Euro.

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