Ich kenne viele Menschen, die auf Twitter immer noch abfällig herabschauen. 140 Zeichen – das kann ja nichts Gescheites sein. Die Fortsetzung der SMS mit anderen Mitteln, voller Smileys, LOLs und völlig verkürzter Sachverhalte. So reden aber nur Leute, die es noch nie richtig ausprobiert haben. Für mich ist Twitter das derzeit wichtigste soziale Netzwerk. Es ist nicht nur eine Nachrichtenzentrale, sondern auch ein Tummelplatz von Aphoristikern und Philosophen. Wer früher in der Zeitung am liebsten das Feuilleton und den Fortsetzungsroman las, kommt heute an Twitter nicht vorbei.
Ich ertappe mich morgens immer öfter dabei, dass ich die Zeitung, obwohl noch gar nicht völlig durchforstet, beiseite lege und zum „kleinen Radio“ greife. (So nennt meine Schwiegermutter diese neumodischen internetfähigen Telefondinger, aus denen manchmal auch Musik rauskommt.) Das ist insofern bedenklich, als dass ich meine Brötchen mit der Verfertigung von lokalen Teilen eines regionalen Holzmediums verdiene. Aber die Versuchung ist einfach zu groß. Ich möchte wissen, wie es Schlenzalot, Katjaberlin, Sarah, Udo Vetter, Dasnuf, Herrn Häkelschwein und all den anderen geht und was sie mir vielleicht für diesen Tag mit auf den Weg zu geben haben. Also schlage ich meinen Fortsetzungsroman im Internet auf. Einen, den ich mir selbst zusammengestellt habe. Bei Twitter.
Die Figuren, die darin mitspielen, kenne ich nicht persönlich. Aber ich weiß einiges von ihnen – oder ihren Rollen, die sie bei Twitter einnehmen. Die Grenzen sind fließend, so wie die im realen Leben. Wer weiß schon, ob der Nebenmann wirklich so ist, wie wir ihn wahrnehmen? Oder ob er nur eine Rolle spielt?
Von Schlenzalot denke ich zu wissen, dass er gerade in Peking ist. Katjaberlin hat, das ist unbestritten, ein sehr erfolgreiches Buch auf dem Markt, Udo Vetter einen für Strafverteidiger untypischen trockenen Humor und Dasnuf ist mehrfache Mutter. So überzeugend, wie sie darüber schreibt, kann das keine Rolle sein. Afelia heißt eigentlich Marina Weisband, ist in letzter Zeit mehr mit den Geburtswehen der Piratenpartei als mit sich selbst beschäftigt gewesen und will das nun wieder ändern. Darüber konnte man auch in anderen Medien lesen, aber bei Twitter öffnet sie manchmal, meist spät am Abend, ihre Seele. Zumindest glaube ich deshalb, ihr näher zu sein als Leute, die nicht bei Twitter sind. Herr Häkelschwein hat tatsächlich ein Häkelschwein erfunden, das mittlerweile sogar auf meinem Schreibtisch steht und als Kalender an der Wand hängt. Und Sarah lebt offenbar in eheähnlicher Gemeinschaft mit ihrem Kater. Was davon stimmt, ich will es eigentlich gar nicht wissen. Ich mag einfach die Figuren, die sich erst in meinem Kopf zu einem kleinen Theaterstück zusammenfügen. Jeden Tag neu.
Auch die Konventionen bei Twitter sind mir sehr sympathisch. Man muss sich nicht mit Fakten einer angeblichen Realität legitimieren wie bei Facebook, und man muss sich auch nicht auf Gegenseitigkeit anfreunden. Jeder kann sich so darstellen, wie er möchte – und jeder, der es will, kann es lesen, so er bei Twitter registriert ist.
Bei den meisten, denen ich folge, sind die Tweets wohl eine Mischung von Realität und Fiktion. Manches davon ist schon richtig Literatur in 140 Zeichen. Wer jetzt die Nase rümpft, sei an den guten alten Aphorismus in der Tradition von Karl Kraus erinnert. Ich bin überzeugt, würde Kraus heute leben, er wäre ein Twitterer und hätte 10 000 Follower. Der Aphorismus lebt wie lange nicht. 140 Zeichen sind sein Format.
Natürlich kann Twitter noch mehr. Es ist das schnellste Nachrichtenmedium überhaupt und auch so etwas wie ein Wegweiser durch das gesamte Internet. Doch Peter Glasers Definition einer „Zeitung, die nur aus einem Inhaltsverzeichnis besteht“, ist wohl nicht ganz vollständig. Er hat recht, es ist eine große Ablenkungsmaschine ohne Zentrum. Oder vielleicht besser: Wo sich jeder als Zentrum fühlen kann. Sozusagen das Medium in Einklang mit Einsteins Relativitätstheorie.
Aber Twitter ist auch voller bunter Vögel, die ihre ganz persönlichen Sicht auf die großen und kleinen Dinge dieser Welt unterhaltsam aufzuschreiben wissen.
So, wie es gute Journalisten und Autoren eben tun sollten, egal in welchem Medium. Danke, Ihr vielen lieben Twitter-Kollegen. Ihr macht der Zunft alle Ehre. Und mir beschert ihr jeden Tag einen guten Anfang. Denn manches, was ich von Euch lese, kommt mir realer vor als das Leben.