Unterversorgt

Mit Dr. Ulrike Abendroth verliert Arnstadt eine von drei Augenärzten, deren Praxis immer voll war. Kurz vor Weihnachten ging sie in den verdienten Ruhestand. Ihre Patienten müssen sich nun einen neuen Augenarzt suchen. Das ist ein schwieriges Unterfangen.  Aber warum?

Um 7 Uhr wähle ich zum ersten Mal die Nummer. ich hatte einen Tipp bekommen, dass eine Augenarztpraxis in der Region am ersten Montag im Monat ab dieser Zeit telefonisch Termine auch für Neupatienten vergibt. Nur telefonisch, Hingehen habe keinen Zweck. Ich gerate an einen Anrufbeantworter: Die Sprechzeit beginne erst um acht. War vielleicht die Nummer falsch? Oder der ganze Tipp?

Bisher war ich ab und zu Patient bei Frau Dr. Abendroth. Die Praxis immer voll, die Ärztin immer freundlich. Aber schon im Herbst, als eine Routine-OP für das linke Auge anstand, sagte sie mir: „Aber für das neue Jahr müssen sie sich jemanden anderen suchen“. Ich nahm das damals noch nicht sehr ernst, vielleicht würde es ja eine nach Nachfolge geben. Oder man könnte bei den Schmidts unterkommen, den beiden anderen Augenärzten in Arnstadt.

Nun, Anfang Januar, sitze ich am Telefon und wähle immerzu diese Nummer. Mal ist besetzt, mal ist frei, aber keiner nimmt ab. Alles andere hat  nicht geklappt. Aber ich muss etwas finden, schon wegen der Nachsorge für die glücklich überstandene OP. Die Termin-Servicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung konnte mir auch nicht helfen, da hätte ich nur einen Termin bekommen, aber ohne garantierte  Anschlussbehandlung. Die Lage bei Augenärzten sei eben „ziemlich angespannt“, hatte die freundliche Dame gesagt.

Beim Stöbern im Internet erhärtet sich dieser Eindruck. In allen Bundesländern wird über das Problem mit Augenarztterminen geklagt, besonders in kleineren Städten. Vom flachen Land ganz zu schweigen. Woran es liegt, hängt davon ab, wen man fragt. Die Krankenkassen klagen, die Augenärzte würden ihre Stammpatienten zu häufig bestellen, obwohl die  gar keine Beschwerden hätten. Die Ärztevertreter klagen, dass viele Patienten ihre gebuchten Termine mangels Bedarf häufig sausen ließen, dadurch entstünde ein Stau, der eigentlich keiner sei. Zusammen beklagen Ärzte und Kassen, dass was faul sei am Gesundheitssystem. Das begünstige den Hang der Ärzte, lieber relativ gesunde Stammpatienten wieder zu bestellen – und halte sie zugleich ab, neue Patienten aufzunehmen. Denn voll vergütet würde nur eine bestimmte Zahl von Patienten pro Arzt. Für jeden, der zusätzlich behandelt wird, gäbe es weniger Geld.

Es ist mittlerweile halb acht, ich habe die Nummer schon um die 20 Mal gewählt – ohne Erfolg. Entgegen meiner sonstigen Grundhaltung ertappe ich mich dabei, in eine „Früher war doch alles besser“-Grundhaltung abzudriften. Man muss ja nicht bis in die DDR zurückgehen, aber war es nicht vor 20 Jahren wesentlich einfacher, einen Augenarzttermin zu bekommen?

Das scheint keine subjektive Empfindung zu sein. Denn sie wird sogar von Frau Dr. Annette Rommel, Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen, geteilt. „Die Nachfrage nach Augenarztterminen ist durch gewachsene Ansprüche an das Sehvermögen im höheren Lebensalter stärker gestiegen als die Kapazitäten. Dass ältere Menschen Smartphones nutzen, gab es vor 20 Jahren noch nicht“, sagte sie schon vergangenen Sommer. Außerdem ließen sich  heute Augenleiden heilen oder lindern, die noch vor einigen Jahren zum Erblinden der Patienten oder zu einer
dramatischen Verschlechterung der Sehfähigkeit führten – allerdings mit sehr hohem Aufwand an Arbeitszeit.

Es ist mittlerweile um acht und der wohl 30. erfolglose Anruf. Und ich frage mich: Wenn das Problem bekannt ist, warum sorgt keiner dafür, dass es mehr Augenärzte gibt?

Das liegt an der Statistik und am Gesetzgeber. Nach einem ziemlich alten Schlüssel wird für jeden deutschen Landkreis eine Zahl von Augenärzten festgelegt, die angeblich ausreichen. Und nur so viele werden dann auch zugelassen. Allerdings sind auch in Gebieten, die nach dieser Statistik  „überversorgt“ sind, die Augenarzt-Termine knapp.  Da scheint also tatsächlich etwas faul am System zu sein.

In der Zeitung habe ich gelesen, dass nach Ansicht der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Thüringen auch der Ilmkreis mit Augenärzten „überversorgt“ sein soll. Stimmt aber nicht, sagt KV-Sprecher Veit Malolepsy. Schon bisher gab es laut Statistik eine halbe unbesetzte Augenarztstelle im Ilmkreis, nach dem Ausscheiden von Frau Dr. Abendroth sind es  sogar anderthalb. „Die KV Thüringen strebt in jedem Fall an, dass freie Arztsitze besetzt werden, damit die Versorgung der Patienten gewährleistet ist, und tut das auch im Ilmkreis“ sagt der Sprecher.

Allerdings ist das gar nicht so einfach. Frau Dr. Abendroth berichtet, dass ihre Bemühungen um eine Nachfolge – übrigens mit Unterstützung der KV – gescheitert seien. Alle  Kandidaten seien am Ende abgesprungen. Ein Problem, das es offenbar überall gibt: Es werden zu wenig Augenärzte ausgebildet – und es lassen sich zu wenige nieder. Das deutet darauf hin, dass der Beruf offensichtlich im Augenblick nicht besonders lukrativ ist. Möglicherweise ist es notwendig, im großen Honorartopf aller Kassenärzte etwas umzuverteilen. Aber das ist schwierig, denn dann würden andere Ärztegruppen etwas weniger bekommen.

In Thüringen hat man zumindest zwei Sofortmaßnahmen beschlossen: Augenkliniken, die zusätzliche Stellen zur Weiterbildung neuer Augenärzte schaffen, können dafür einen finanziellen Zuschuss beantragen. Und alle Thüringer Augenärzte, die keine Operationen durchführen und ausschließlich
konservativ arbeiten, erhalten für die Neuaufnahme von Patienten einen Fallzuschlag auf ihr Quartalshonorar.

Ob das auf Dauer hilft, muss man sehen. Vielleicht könnte Arnstadt auch dem Beispiel anderer Kommunen folgen und zusätzlich für einen ansiedlungswilligen Augenarzt ein paar Sonderkonditionen anbieten. Die Kassenärztliche Vereinigung würde es freuen und die Patienten würden es ihr danken.

Für mich hat sich bis dahin doch noch eine Lösung gefunden. Nach anderthalb Stunden Telefonieren habe ich jemanden an die Strippe und sogar einen Termin bekommen. Wenn auch erst im April. Welche Praxis es ist, werde ich nicht sagen. Denn das Wartezimmer ist sicher auch so schon voll genug.

2 Gedanken zu „Unterversorgt“

  1. Grundsätzlich verstehe ich Ihr Problem, welches aber auch nicht neu ist.
    Was mir unverständlich erscheint, warum man bei einer angesagten Annahmezeit von 8.00 Uhr bis dahin 30 Mal angeklingelt haben muss.
    Man stelle sich nun einmal vor, 100 weitere in der Luft hängende ehemalige Patienten von Frau Dr. Abendroth hätten in besagter Zeit 30 Mal angeklingelt…
    Ich könnte mir vorstellen, das da sogar eine Anrufmaschine Ihren Geist aufgibt.. und nicht auszudenken das ein Mensch diesen Amok verarbeiten müsste.

  2. Nein, neu ist das nicht, aber ich schreibe halt auf, was mich beschäftigt. Und es hat mich eben jetzt getroffen.
    Und was den Anruf-Marathon betrifft: Ich mach es hoffentlich nie wieder. Oder besser: Ich hoffe, ich muss es nie wieder machen.

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