Woher stammt ein Gedicht über Arnstadt, das sich derzeit als Schachtel oder Mandala in Arnstadt verbreitet? Ein in Buttstädt gefundenes Manuskript war Anlass für eine Spurensuche, bei der viele Arnstädter mitgemacht haben.
Es gibt viele Gedichte über Arnstadt. Von den meisten sind Autorenschaft und Entstehungszeit geklärt. Doch es gibt ein Gedicht aus 20 ziemlich gut gereimten Strophen, das von Fürstenberg bis Schneckchen, von Jungfernsprung bis Käfernburg, vom Marktplatz bis zum Schlossgarten so ziemlich alles erwähnt, was Arnstädtern an ihrer Stadt so gefällt. Es heißt „Mein Arnscht“, verfasst wurde es von jemandem, der hier gelebt hatte, aber dann in die Ferne zog:
„So manches lange schwere Jahr
ich nicht in meiner Heimat war
die Sehnsucht trieb mit schwerer Macht
ich hab mich auf den Weg gemacht.“
Der Ursprung des Gedichts liegt im Dunkeln, aber es kursiert derzeit wieder verstärkt in Arnstadt – wenn auch in modifizierter Form.
„Ich habe das Gedicht irgendwann nach der Wende als Plakat im A3-Format in die Finger bekommen“, erzählt Uta Kessel, die durch den Altstadtkreis und auch als Marlitt-Darstellerin bekannt ist, „und es hat mir auf Anhieb gefallen“. Da sie sich seit einiger Zeit mit Origami beschäftigt, der Kunst des japanischen Papierfaltens, stellt sie aus Kopien des Gedichts kleine Schachteln und andere Faltobjekte her, die man im Bachhaus besichtigen kann – oder die sie auch gern an Freunde und Bekannte verschenkt. So hat das Gedicht seinen Weg in viele Arnstädter Häuser gefunden, auch wenn weder Uta Kessel noch einer der Beschenkten sagen konnte, wo es eigentlich herkommt.
Auch Ilka Langenhan kam kürzlich mit dem Gedicht in Berührung. Die Organisatorin der nicht nur in Arnstadt beliebten Konzertreihe „Project unplugged“ lernte auf einem Auswärts-Konzert der Band in Buttstädt Christina Henkel kennen, deren Familie Arnstädter Wurzeln hat. Frau Henkel fand beim Sichten des Nachlasses ihrer verstorbenen Mutter unter anderem ein Schreibmaschinen-Manuskript mit einem Gedicht, das offenbar von ihrer Großmutter stammte. „Ob das meine Oma gedichtet hat, weiß ich allerdings nicht“, so Frau Henkel. Was sie aber wusste: Großmutter Hertha Trebing war Arnstädterin – und dichtete gern. Das Gedicht auf dem vierseitigen Manuskript hieß „Mein Arnscht“, hatte 20 Strophen und war genau das, was Uta Kessel zu ihren Origami-Schachteln verarbeitete. War Hertha Trebing etwa die bisher unbekannte Autorin des Gedichts?
Uta Kessel und Ilka Langenhan trafen sich im Bachhaus und tauschten ihre Informationen aus. Aber es blieben viele Fragen offen. Wer könnte vielleicht noch etwas darüber wissen?
Zum Glück gibt es zahlreiche Menschen, die sich mit Arnstädter Geschichte befassen. Ich fragte zuerst Peter Unger, den Arnstädter Geschichtsexperten, der jetzt im Vogtland lebt. Unger besitzt einen großen Fundus an Arnstadt-Literatur, zum Beispiel auch das Heft mit einem Beitrag vom Ernst Meiland über „Arnstadt in Lied und Sang“ aus dem Jahr 1939. „Aber darin kommt dieses Gedicht nicht vor“, sagt Unger. Er hat aber ein anderes Werk des Arnstädter Heimatfreunds Karl Wenig über Arnstadt aus dem Jahr 1966 gefunden, das fast wortgleich eine Strophe aus „Mein Arnscht“ enthält. „Wahrscheinlich hat Karl Wenig damals das andere Gedicht vorgelegen“, vermutet Peter Unger.
Er schlägt noch eine Spur vor, die zur zeitlichen Eingrenzung des Entstehungszeitraums des Gedichts führen könnte. Es ist die 18. Strophe des Gedichts. Sie lautet:
„Doch einen konnt ich nicht mehr finden,
der mich an die Erinnerung band,
es ist der alte Schirm, der hinten
einst im Schlosspark stand.“
Die Sache mit dem Schirm kann Hartmut Fuhrmann aufklären, ein weiteres Urgestein der Arnstädter Geschichtsforschung. Ab 1860 stand tatsächlich ein pilzförmiger Holzschirm im Schlossgarten auf einem kleinen Hügel, etwa an der Stelle, wo jetzt der „Falkner“ seinen Platz hat. Laut Hartmut Fuhrmann hat der Schirm bis 1924 dort gestanden, so kann man es auch in einschlägigen Arnstädter Publikationen nachlesen.
Doch der Schirm existierte noch einige Jahre länger. Das hat ein weiterer Arnstädter Heimatforscher herausgefunden: Manfred Biester. Er fand im „Arnstädter Anzeiger“ vom 14. Januar 1930 eine kleine Notiz über eine Sitzung des Arnstädter Hauptausschusses, der eine Neugestaltung des westlichen Schlossgartenareals beschlossen hatte. Dazu sollte „der sogenannte Schirm beseitigt und aufs Lager genommen werden, bis man einen anderen geeigneten Platz zur Wiederaufstellung gefunden hat“.
Marion Meinshausen, der Organisatorin des Stammtischs der Arnstädter Hobby-Historiker, fällt beim Lesen dieser Strophe des Gedichts noch etwas anderes auf: „Wieso steht da, der Schirm habe hinten im Schlossgarten gestanden? Die Stelle, wo jetzt der Falkner steht, ist doch ganz vorn!“ Eine wichtige Beobachtung, die etwas über die Perspektive des Gedichteschreibers aussagt. Wer in der Nähe des Bahnhofs oder wie Marion Meinshausen im Westviertel wohnt, für den ist der Eingang am Straßburg-Kreisel „vorn“ im Schlossgarten. Wer den Park aber meist von der Bad-Seite (oder über das Landratsamt) betritt, für den steht der Falkner „hinten“.
Damit war klar: Der Autor oder die Autorin des Gedichts „Mein Arnscht“ muss vor 1930 aus Arnstadt weggezogen und nach „langen, schweren Jahren“ zu Besuch zurückgekehrt sein – als der Schirm nicht mehr da war. Und er hat wahrscheinlich eher im Ost- oder Südviertel als in Bahnhofsnähe gewohnt.
Ich habe Christina Henkel aus Buttstädt gefragt, ob diese Kriterien auf ihre Großmutter Hertha Trebing zutreffen könnten. Das Alter passt, sie ist 1902 geboren, war also 28, als der Schirm im Schlossgarten verschwand. Aber Frau Henkel glaubt nicht, dass ihre Großeltern je aus Arnstadt weggezogen sind. Und auch deren Wohnungen an der Liebfrauenkirche, in der Lessing- und in der Bielfeldstraße sprechen nicht dafür, dass man den Schirm „hinten“ im Schlossgarten verorten würde, sondern eher vorn.
Natürlich ist trotzdem nicht ausgeschlossen, dass Hertha Trebing das Gedicht „Mein Arnscht“ geschrieben hat, aber die Fakten sprechen wohl dagegen.
So bleibt das „Gedicht-Rätsel“ trotz des Engagement so vieler Arnstädter Hobby-Historiker weiter ungelöst. Aber vielleicht gibt es ja Leser, die etwas mehr über das Gedicht wissen. Oder sich erinnern, wie das Plakat mit dem Gedicht (und dem schönen Bild von Ried- und Jakobsturm) entstanden ist. Ich würde mich freuen, wenn es eine Fortsetzung der Geschichte gäbe.
Update 1: Das Plakat ist bei Barthel-Druck entstanden!
Ich hatte einen Tipp bekommen, dass jemand das Plakat im Büro von Barthel-Druck gesehen haben wollte. Carolin Barthel fand nun die Zeit, mal in alten Unterlagen zu wühlen – und hat tatsächlich eine Datei mit dem Plakat gefunden. Damit ist bewiesen, dass dieses Plakat bei Barthel gedruckt wurde. Allerdings konnte sie das Entstehungsjahr nicht ermitteln, denn das Dateidatum verweist auf das Jahr 2014 und stammt wohl von einem Computer-Backup. Wahrscheinlich ist das Plakat früher entstanden.
Weitere Hinweise unbedingt erbeten!