Die Privatisierung der „Gelenkwelle“

Als ich im vergangenen Jahr über die  wirtschaftliche Entwicklung der Region  nach der Wende recherchierte, hätte ich gern auch die Geschichte der Stadtilmer Gelenkwelle erzählt. Leider kam kein Gespräch mit Martin Röder zustande, der Geschäftsführer im Ruhestand hatte einfach zu viel zu tun. Nun aber ergibt sich die Gelegenheit, diese Geschichte nachzureichen: Röders Aussage  vor dem Landtags-Untersuchungsausschuss zur Arbeit der Treuhand ist im jetzt erschienen Abschlussbericht des Ausschusses dokumentiert.

Hier also die spannende Geschichte der Privatisierung des Gelenkwellenwerks Stadtilm aus der Sicht von Martin Röder.  Es ist an einigen Stellen wirklich harter Tobak und wirft kein besonders gutes Licht auf die damaligen Treuhand-Verantwortlichen. Tenor: Ohne Röders Hartnäckigkeit und die „Bild“-Zeitung wäre es wohl nix geworden mit der Erfolgsgeschichte Gelenkwelle. Die Zeugenaussage Röders wird folgend im Wortlaut wiedergegeben und ist im Abschlussbericht des Ausschusses (wie so manch andere interessante Treuhand-Geschichte) nachzulesen.

Gelenkwellenwerk Stadtilm
Der Zeuge Martin Röder erwähnte eingangs, dass er zwei Privatisierungen gemacht habe. Er sei im Kombinat Landtechnik Erfurt groß geworden. 1992 habe er mit noch vier anderen Freunden die Land- und Kraftfahrzeugtechnik in Stadtilm privatisiert. Der Betrieb habe seinerzeit 120 Beschäftigte gehabt.
Zum Gelenkwellenwerk Stadtilm führte er aus: Am 2. September 1993 habe ihn der Betriebsdirektor des Gelenkwellenwerks Stadtilm, R. S., gefragt, ob er sich vorstellen könne, als Käufer
in das Werk einzusteigen. Der Betriebsdirektor habe durch einen Bekannten erfahren, dass er einen größeren Kaufvertrag über Grundstücke in Riechheim abgeschlossen gehabt habe. Der
Zeuge erläuterte, er habe den damaligen Chef der Dresdner Bank in Erfurt gefragt, wie er das Geld – eine Summe im siebenstelligen Bereich – anlegen könne, wenn es komme. Der Chef der Dresdner Bank habe R. S. darüber informiert.
Bis zu diesem Zeitpunkt sei das Gelenkwellenwerk nachweislich über 100 Firmen weltweit angeboten worden. Die gesamten Wettbewerber der Branche seien in der Firma erschienen und hätten Maschinensysteme und Konstruktionsunterlagen angeschaut. Das Gelenkwellenwerk habe vor der Wende mit 1700 Beschäftigten einen Umsatz von ca. 220 Millionen DDR-Mark erwirtschaftet, Anfang 1993 seien noch 7 Millionen D-Mark umgesetzt worden. Der Betrieb sei unter der Leitung der Treuhand in Erfurt auf 243 Leute zurückgebaut worden. Am 1. November 1993 habe der Betrieb als nicht privatisierungsfähig liquidiert werden sollen. Das sei alles noch vor seiner Zeit gewesen.
Dann hätten sich die Ereignisse überschlagen. R. S. und ein von der Treuhand kommender kaufmännischer Geschäftsführer, R., hätten einen schon fast tintenfertigen, auf ihn zugeschnittenen Vertrag für einen eventuellen Investor vorbereitet, bei dem sie jeweils mit 10 Prozent im Unternehmen hätten bleiben sollen und er mit 80 Prozent beteiligt sein sollte.
Die Treuhand habe zunächst gar keine Preisvorstellungen gehabt und 500.000 D-Mark verlangt, nachdem er Ja gesagt habe. Sie hätten dann vier Tage vor Ultimo, am 26. Oktober 1993, den Kauf in der Treuhand abgeschlossen und hätten gedacht, nun sei alles in trockenen Tüchern. Als er angesprochen worden sei, habe der Betrieb noch einem Gesamtumsatz von 7 Millionen D-Mark erwirtschaftet und noch viele Leute beschäftigt. Mit der Hilfe der Treuhand sei der Umsatz Ende 1993 schon auf ca. 20 Millionen D-Mark gesteigert worden. Dies sei jedoch keinem Interessenten, der vorher schon da gewesen sei, irgendwo das Risiko wert gewesen. Es sei für sie viel lukrativer gewesen, das ganze technische Know-how aus dem Gelenkwellenwerk mit aufzunehmen.
Er erinnerte in diesem Zusammenhang an den Ursprung der Firma, bei der es sich ursprünglich, vor dem Zweiten Weltkrieg, um die Rheinmetall Antriebstechnik gehandelt habe. Sie sei
dann von Sömmerda nach Stadtilm gegangen und habe schon viel Know-how mitgebracht. Daraus sei 1946 der VEB Thüringer Gelenkwellenbau und schließlich das Gelenkwellenwerk Stadtilm entstanden.
Als der Treuhand in Berlin der Kaufvertrag zur Kenntnis gekommen sei – R. S.: 10 Prozent, R.: 10 Prozent, Röder: 80 Prozent –, habe sie ihn für null und nichtig erklärt. Sie seien aus allen Wolken gefallen. Nachdem es vorher keinen Kaufinteressenten gegeben habe, sei auf
einmal, im Auftrag oder mit Wohlwollen von Berlin, ein Unternehmer aus Schlüchtern – Lenkungsteile – in der Firma erschienen und habe sich interessiert. Er sei nach Schlüchtern gefahren und habe an einer Tankstelle und in einer Gaststätte vorgegeben, bei Lenkungsteile arbeiten zu wollen. Er sei ausgelacht worden und man habe ihm gesagt, die Beschäftigten der Firma hätten schon ein Vierteljahr kein Geld bekommen. Er habe dann dem seinerzeit für den Ilmkreis zuständigen Landtagsabgeordneten Winfried Neumann dargelegt, was gelaufen ist. Neumann habe die Bild-Zeitung mit eingebunden, die ihrerseits die Firma über Creditreform Fulda habe prüfen lassen. Wie die Zeitung geschrieben habe, sei die Bonität mit 500, also katastrophal beurteilt worden.
Dann habe ihn der Finanzvorstand der Treuhand und zweite Mann hinter Birgit Breuel, Dr. M., am 22. Dezember 1993 aufgefordert, bis zum 4. Januar 1994 eine neue Finanzierungsplanung und eine Bankbestätigung zu bringen habe. Er habe ihm den Kaufpreis von 500.000 auf 1 Million D-Mark hochgesetzt, mit der Verpflichtung, in den ersten drei Jahren 8 Millionen D-Mark zu investieren.
Das Schreiben habe er in der Kantine des Landtags Neumann, den Ministern Willibald Böck und Dr. Jürgen Bohn gezeigt, die Ministerpräsident Prof. Dr. Bernhard Vogel hinzugeholt hätten. Vogel habe entschieden, dass am 27. und 28. Dezember 1993 je zwei Mitarbeiter vom Finanz- und Wirtschaftsministerium eine Landesbürgschaft bereitzustellen hätten. Die Landesbürgschaft über 10 Millionen D-Mark habe er am 29. Dezember 1993 in den Händen gehalten und sei damit sofort zur bereits vorinformierten Deutschen Bank nach Erfurt gegangen. Am 30. Dezember 1993 habe er mit der Bank eine Durchgriffshaftung auf sein gesamtes Privatvermögen vereinbart.
Zum festgesetzten Zeitpunkt, am 4. Januar 1994, 10 Uhr, habe er im Büro des Herrn Dr. M. gesessen, der darüber sichtlich erbost gewesen sei. Er, Röder, habe die Durchfinanzierungsbestätigung und die Landesbürgschaft vorgelegt, die Dr. M. als Fälschung bezeichnet
habe. Daraufhin habe er M. versprochen, sofort die Staatsanwaltschaft und die Medien einzuschalten, und sei dann sehr unschön verabschiedet worden.
Am 11. Januar 1994 habe er Prof. Dr. Bernhard Vogel bei einer Kreisbereisung, bei der Vogel u.a. das Gelenkwellenwerk aufgesucht habe, angesprochen. Vogel habe ihm mit dem Argument keine weiteren Zusagen geben können, dass die Treuhand noch mehr dichtmache, wenn die Landesregierung noch mehr einwirke. Schließlich habe er am 22. Januar 1994 eine Veranstaltung beim Bürgermeister von Arnstadt genutzt, um Medienvertreter darüber zu informieren, was ihm widerfahren sei. Am darauffolgenden Montag sei in der Bild-Zeitung ein großer Artikel erschienen: „Skandal um die Gelenkwelle – Deutschland bootet drei Thüringer aus, Laden läuft und plötzlich klopft ein Wessi an“.
Der Artikel sei eingeschlagen wie eine Bombe. Seine zwei Partner, die immerhin auch Angestellte der Treuhand gewesen seien, seien verschwunden gewesen. Die Veröffentlichung des Artikels sei vor der letzten Sitzung der Treuhand wichtig gewesen, bei der es um Jena und das Gelenkwellenwerk in Stadtilm gegangen sei. Am 26. Januar 1994 sei die Entscheidung der Treuhand in Berlin drei zu vier gefallen. Im Radio über den MDR habe er gehört, dass die Treuhand drei zu vier für MBO/MBI entschieden habe.
MBO seien R. S./R. gewesen, er als von außen Kommender das MBI. An dem Tag sei Birgit Breuel zufälligerweise als Rednerin zum Jahresempfang der IHK in Erfurt im Rathaussaal gewesen. Breuel habe gesagt, sie wisse, dass ein Herr Röder im Raum ist und sie sei noch nie auf diese Art und Weise angegriffen worden. Sie könne garantieren, dass der Vertrag mit heißer Nadel gestrickt worden sei und es keine Nachverhandlungen geben werde. So sei es auch
gewesen. Er habe mit diesen 8 Millionen D-Mark Investitionen angefangen und bis jetzt 150 Millionen in das Werk investiert.

(Ende des Zitats aus dem Abschlussbericht)

Siehe auch: 
Die wirtschaftliche Entwicklung der Region Arnstadt nach der Wende  

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