Der Thüringer Verfassungsschutz kommt nicht aus den Schlagzeilen heraus. Besonders seine Rolle um die Jahrtausendwende wird in diesen Tagen immer wieder thematisiert – und auch das Verhalten des Spitzels Tino Brandt. Allerdings waren das wilde Zeiten, gerade im Verfassungsschutz. Zur Versachlichung der Debatte möchte ich durch eine kleine Chronik beitragen, die ich damals angefertigt habe. Sie zeigt, dass nicht nur wichtig ist, wer etwas getan oder nicht getan hat, sondern auch wann. Denn die Zuständigkeiten haben sich damals ziemlich schnell verändert, gerade was den Verfassungsschutz und Brandt betrifft. Der wurde offenbar mehrfach ab- und wieder angeschaltet. Und er mutierte auf wundersame Weise von Otto zu Oskar – genau in der Zeit, um die es jetzt geht.
Von Otto zu Oskar – Die Chronik der Thüringer Verfassungsschutz-Skandale um Tino Brandt
1994 Innenminister Franz Schuster (CDU) macht Helmut Roewer zum Präsidenten des Verfassungsschutzes
Ende 1994 Richard Dewes (SPD) wird Innenminister.
1994 oder 1995 Tino Brandt, damals noch ein kleines Licht in der rechten Szene, wird als V-Mann vom Verfassungsschutz angeworben (der genaue Zeitpunkt ist mir nicht bekannt)
Oktober 1997 Bei rechten Aufmärschen in Saalfeld taucht Tino Brandts Name als Organisator auf. Er gilt zu dieser Zeit bereits als Chef des Thüringer Heimatschutzes. Bei einer Razzia in einer Gaststätte in Heilsberg nahe Rudolstadt hebt die Polizei ein umfangreiches Waffenlager des Heimatschutzes aus.
November 1997 Beim Umzug des Innenministeriums verschwinden zwei Computer mit geheimen Informationen aus Ministerium und Geheimdienst. Drei vor dem Umzug erstellte Sicherheitskopien der fehlenden Festplatten werden im Innenministerium, LKA und Verfassungsschutz deponiert.
Herbst 1999 Christian Köckert wird CDU-Innenminister.
26. Februar 2000 Hunderte Neonazis marschieren durch die Erfurter Innenstadt. Brandt gehört zu den Initiatoren.
20. April 2000 Zwei Neonazis verüben einen Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge.
30. April 2000 Auf dem NPD-Landesparteitag besetzt Brandt mit dem Heimatschutz handstreichartig die wichtigsten Chefposten. Brandt wird Landesvize und Pressesprecher.
3. Mai 2000 Nach antisemitischen Äußerungen Brandts im mdr-Fernsehen gibt Verfassungschutz-Chef Roewer die Weisung, ihn als Spitzel sofort abzuschalten. Die Weisung wird nicht ausgeführt. Es gibt bereits seit längerem einen Machtkampf im Verfassungsschutz.
25. Mai 2000 Roewer beauftragt persönlich einen Mitarbeiter mit Brandts Abschaltung.
29. Mai 2000 Brandt wird ohne Abschaltprämie entlassen. Er darf einen Vorschuss von 2700 Mark behalten. Nachsorgetreffen soll es nicht geben.
7. Juni 2000 Neonazi Thomas Dienel gibt öffentlich im ZDF seine Spitzelarbeit für den Geheimdienst zu.
8. Juni 2000 Amtschef Roewer wird wegen der Dienel-Affäre vom Dienst suspendiert. Innenminister Köckert bestätigt 80 Treffen Dienels mit dem Geheimdienst, für die der Spitzel 25000 Mark erhielt.
12. Juni 2000 Der amtierende Verfassungsschutz-Chef Peter Nocken ordnet an, Brandt als Spitzel zu reaktivieren.
Mitte Juni 2000 Beim vertraulichen Gespräch im Wohnhaus des Innenministers Köckert weist Roewer auf das Problem des Spitzels Brandt hin. Köckert bestätigt das Treffen, bestreitet aber, dass über Brandt geredet wurde.
29. Juni 2000 In einer Dienstaufsichtsbeschwerde aus dem Verfassungsschutz an das Innenministerium wird das Problem Brandt angedeutet. Innenminister Köckert will das Schreiben nie bekommen haben.
26. August 2000 Die „Thüringer Allgemeine“ berichtet erstmals, aber noch ohne Namensnennung über einen Spitzel aus der rechten Führungsetage, der von Roewer ab- und von Nocken wieder angeschaltet wurde.
15. November 2000 Thomas Sippel wird neuer Präsident im Verfassungsschutz. Er kündigt an, keine Spitzel aus der rechten Führung beschäftigen zu wollen.
4. Dezember 2000 Sippel verbietet schriftlich die Führung von V-Leuten aus der rechten Führungsetage.
17. Januar 2001 Da Brandt noch immer nicht abgeschaltet wurde, erlässt Sippel eine entsprechende Verfügung. Im Gegensatz zur ersten Abschaltung durch Roewer werden Brandt aber Nachsorgetreffen zugebilligt.
Außerdem wird eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit in Aussicht gestellt, falls Brandt sich von mindestens einer seiner rechten Führungspositionen trennt. Aus finanziellen Gründen möchte Brandt als Spitzel weiterarbeiten und zeigt sich kompromissbereit.
4. Februar 2001 Brandt gibt sein Amt als NPD-Pressesprecher offiziell aus technischen Gründen ab. Die Bedingung zur weiteren Spitzelarbeit für den Geheimdienst ist erfüllt.
23. Februar 2001 Brandt reist in die USA und sagt als Landesvize der NPD in einer Anhörung zum Asylantrag des Satansmörders Möbus aus.
März bis 3. Mai 2001 Es finden nahezu wöchentliche Treffen des Geheimdienstes mit Brandt statt, er erhält dafür 7000 Mark. Sein Deckname wird in Oskar geändert.
12. Mai 2001 Die „Thüringer Allgemeine“ berichtet über den Spitzel Brandt und ein Treffen mit seinem V-Mann-Führer in Coburg. Der dementiert zunächst und belegt die TA mit einer 100 000-Mark-Klage. NPD-Landeschef Frank Schwerdt will damals seine Hand dafür ins Feuer legen, dass Brandt keine Spitzeldienste leiste.
Das Innenministerium schweigt zunächst– aus Geheimhaltungsgründen. Im Fall Dienel war das völlig anders gewesen
16. Mai 2001 TA belegt mit Fotos das Treffen Brandts mit dem Geheimdienst in Coburg.
18. Mai 2001 Brandt tritt aus der NPD aus.
23. Mai 2001 Brandt gibt seine Spitzeldienste für den Verfassungsschutz im ZDF zu. Er will mehr als einen fünfstelligen Betrag erhalten und so die rechte Szene finanziert haben.
25. Oktober 2002 Christian Köckert tritt als Innenminister zurück, weil aus seinem Ministerium geheime Verfassungsschutz-Daten verschwunden sind. Es handelte sich um eine Sicherheitskopie jener Festplatten, die 1997 aus dem Ministerium gestohlen worden waren.
Die CD mit den geheimen Daten ist nie wieder aufgetaucht.
(Eine gekürzte Fassung dieser Chronik ist Mitte November bereits in der „Thüringer Allgemeine“ erschienen)
Siehe auch:
Drunter und drüber
Der Thüringer Verfassungsschutz wurde 1991 gegründet.
Helmut Röwer übernahm den Dienst aber erst 1994.
Wer war der Vorgänger, der eventuell ein paar entscheidende Weichen gestellt hat?
War es ein Tschekist?
Was geschah wohl, wenn ein Besserwessi auf einen solchen trifft?
Wer hat dann wohl wen am Nasenring vorgeführt
fragt mal ganz naiv
Gerd-Peter L.
aus
Erfurt