Einmal im Jahr wird Arnstadt verrückt. Hochsprung-verrückt. Die Sportart, die sonst in der Gegend kaum eine Rolle spielt, dominiert plötzlich das öffentliche Leben. Das Ganze wirkt ein wenig wie eine Ski-WM in der Lüneburger Heide oder ein nachdenklicher Redebeitrag im Arnstädter Stadtrat: Man hat irgendwie das Gefühl, das gehört da nicht hin. Aber es gehört dahin und die meisten Arnstädter sind froh, etwas zu haben, das über die Provinz hinaus von Bedeutung ist. In diesem Jahr schon zum 36. Mal.
„Alida, machen wir noch weiter?“ wurde am Sonnabendabend von der Bühne der Arnstädter Stadthalle in den Saal gefragt. Man konnte nicht genau erkennen, ob die so Gefragte nickte. Hinterher wurde behauptet, sie habe sogar mit dem Kopf geschüttelt. Aber das ist am Ende auch egal. Schließlich heißt die Dame mit Nachnamen Triebel und ist die Ehefrau der Seele des Arnstädter „Hochsprungs mit Musik“. Hubertus Triebel wurde zwar im vergangenen Jahr schon 75, aber ohne ihn geht es wohl nicht.
Und auch nicht ohne den, der ihm auf der Bühne die Frage nach dem Weitermachen gestellt hatte: Günter Eisinger, der Manager im Hintergrund. Er trainiert und vermittelt nicht nur die gebürtige Thüringerin Ariane Friedrich, sondern ist maßgeblich daran beteiligt, dass auch in diesem Jahr wieder ein Großteil der Hochsprung-Weltelite in Arnstadt auf der Matte stand – oder lag.
Denn auch das ist es, was die Faszination einer solchen Veranstaltung ausmacht: Man sieht die Athleten nicht nur ein paar Minuten während ihrer Sprünge, sondern die ganze Zeit. Sie sind praktisch den ganzen Wettkampf über in der Mitte der Halle – und lassen sich beim Musikhören, Aufwärmen, Freuen und Ärgern zusehen.
Es sieht aus, als würde eine große Familie zu einem Treffen zusammenkommen. Man redet, fachsimpelt und scherzt miteinander. Man freut sich auch über die Erfolge der anderen und tröstet sie, wenn es nicht so gut läuft. Als Ariane Friedrich als erste im starken Frauenfeld ausschied und die Tränen nicht halten konnte, nahm sie Deutschlands derzeit bester Hochspringer Raul Spank in den Arm.
Solche Szenen erinnern daran, wie es angefangen hat bei „Hochsprung mit Musik“. Ein wirklich familiäres Meeting, zu dem die Sportler gern kamen, weil man seine Musik selbst mitbringen konnte, die Bedingungen so gut waren und das Publikum so besonders mitging.
Das ist alles zum großen Teil auch heute noch so, aber die Zeiten sind schwieriger geworden. Es geht – mehr als früher – auch um Geld. Großverdiener kann man nicht werden in der „Randsportart Hochsprung“, die zumindest vom Massenmedium Fernsehen noch immer als solche behandelt wird. Nur wer, auf welche Art auch immer, von den großen Anstalten reichlich Sendezeit eingeräumt bekommt, hat die Chance, aus der Nische herauszukommen. Wie das geht, wurde beim Biathlon sichtbar. Nur ist Hochsprung eben nicht Biathlon. Aber der Trainingsaufwand ist auch dabei so hoch, dass man kaum einen richtigen Beruf ausüben und nebenbei noch Weltmeister werden kann.
Deshalb spielen Antrittsprämien und Preisgelder eine große Rolle. Und es erscheint wie ein Wunder, dass es trotzdem fast immer gelingt, ein so hochklassiges Starterfeld nach Arnstadt zu holen. Auch in diesem Jahr war es nur so gespickt mit Weltmeistern, Olympiasiegern. und Inhabern von Rekorden.
Der Start der Belgierin Tia Hellebaud, der Olympiasiegerin von Peking, hatte sogar belgische Journalisten nach Arnstadt gelockt. Frank van Roost, Sportberichterstatter einer belgischen Zeitung, zeigte sich begeistert. „Dass Frauen und Männer nicht getrennt, sondern abwechselnd in einem Wettkampf springen, habe ich noch nie erlebt, das ist eine prima Idee“, sagte er, „und das Publikum ist fantastisch“. Vom Arnstädter Meeting hatte er vorher noch nie gehört – obwohl es bei der Fach-Wertung regelmäßig als eines der besten weltweit eingestuft wird.
Das dürfte auch in diesem Jahr wieder so sein, besonders wegen des starken Frauen-Feldes und der herausragenden Leistung von Anna Tschitscherowa aus Russland. Dass sie nach ihren vielumjubelten 2,06 Metern darauf verzichtete, den Arnstädter Hallenweltrekord von Kajsa Bergquist auch noch infrage zu stellen, kann man ihr nicht übelnehmen. Es war ein langer Wettkampf. Und es gibt Meetings, bei denen das Preisgeld für Weltrekorde höher ausfällt als in Arnstadt.
Auch der Hochsprung hat im Laufe der Zeit etwas von seiner Unschuld verloren. Doch das Arnstädter Meeting kämpft tapfer dagegen an – mit Hubertus Triebel an der Spitze. Auch beim nächsten Mal.