Viele Touristen, die sich später an Arnstadt erinnern, sprechen lobend über die erlebte Stadtführung. Es gibt viele Frauen und Männer, die es verstehen, das Interesse für diese Stadt zu wecken. Jeder und jede hat eine eigene Art dafür entwickelt. Das gilt auch für diese Frau, die sehr gern „gebucht“ wird: Renate Friedel. Sie hat schon 555 Reisegruppen durch die Stadt geführt.
„Bevor es los geht“, sagt Renate Friedel am Brunnen in der Zimmerstraße, „greifen Sie bitte hier erst mal rein“. Dieser Start einer Stadtführung gehört sonst nicht zum Repertoire, aber bei den 20 Leuten aus Helsa bei Kassel macht sie eine Ausnahme: „Sie sind heute meine 555. Stadtführung und da hab‘ ich mir gedacht, da geb‘ ich doch mal einen aus“. Weil es so warm ist, gibt es aber keinen Schnaps, sondern Glückskäfer. Natürlich antwortet die Gruppe mit Beifall, den gibt es eigentlich immer. Aber sonst erst hinterher.
Die Karawane der Glückskäfer kauenden Gäste setzt sich in Bewegung und Renate Friedel erzählt, wie alles angefangen hat. Stadtführerin wollte sie nie werden. Ich habe vor 20 Jahren nur deshalb einen Lehrgang an der Volkshochschule gemacht, damit ich meinen Bekannten etwas mehr über Arnstadt erzählen kann. Es war noch die Zeit, als es keine Stadtführer, sondern nur Stadtbilderklärer gab. Der Begriff Führer, fanden die Oberen in der DDR, war zu negativ besetzt.
Irgendwie hat sie sich dann doch breitschlagen lassen und den Schein gemacht, der sie zum Erklären des Stadtbildes offiziell berechtigte. Und sie erklärt bis heute.
„Jetzt kommt Frau Friedels Märchenstunde“, sagt sie im Hof des Landratsamtes und fordert die Touristen auf, das Alter der gewaltigen Rotbuche zu schätzen. Natürlich klärt sie hinterher darüber auf, dass sich die Experten ebenso uneins über das wahre Alter sind wie die Touristen. Aber es bleibt hängen, dass es in Arnstadt eine wunderschöne Buche gibt.
Ähnlich locker bringt sie ihren Schützlingen die Arnstädter Bach-Geschichte nahe. Dass Caspar, der erste Arnstädter der Dynastie, im Neideckturm ganz oben wohnte, erklärt sie so, dass man es sich leicht merken kann: Stellen Sie sich bloß vor, die arme Frau merkte oben, dass sie das Mehl vergessen hat. Da musste sie die ganzen Stufen nochmal runter.
Auch für die Puppensammlung Mon plaisir, die sie den Gästen natürlich wärmstens ans Herz legt, zeigt sie eine sehr individuelle Betrachtung. Es seien alle Puppen interessant. Aber das schönste Gesicht habe eine Bettlerin. „Achten Sie mal drauf!“
Eigentlich ist Renate Friedel gar keine Arnstädterin, sie ist in Halle geboren. Dass sie vor 47 Jahren hierher kam, ist wohl die Schuld eines gewissen Alwin Friedel, den man in Arnstadt als Kirchenmusikdirektor bestens kennt. Renate Friedel sieht sich dennoch als echte Thüringerin an. 47 Jahre seien schließlich mehr als ein halbes Leben.
Fragt man sie nach besonderen Erlebnissen als Stadtführerin, muss sie etwas länger überlegen. „Als die Kasselaner gleich nach der Wende kamen, da hab‘ ich oft den Satz gehört: ‚Na das hättet ihr doch gleich haben können'“. Darüber habe ich mich sehr geärgert. Aber sonst kann sie eigentlich nur Gutes berichten. Mit den meisten Gruppen macht es einfach Spaß, besonders wenn intelligente Fragen kommen.
Am liebsten führt sie die Bach-Route. Vor der Goldenen Sonne wird die Geschichte von den Familientreffen erzählt, die morgens brav mit Chorälen begannen und am Abend mit schlüpfrigen Liedern endeten. Und ein wenig Luther muss auch sein, schließlich soll der Meister nach einem Blick von der Alteburg Arnstadt als eine Schüssel gesottener Krebse mit Petersilie garniert beschrieben haben.
Es wird viel gelacht bei den Führungen von Frau Friedel. „Wir haben extra Herrn Christo engagiert“, sagt sie vor dem verhüllten Rathaus. Und vor dem Modell des Gurker Doms bemerkt sie trocken: An diesem Wochenende fahren fast alle Arnstädter nach Gurk. Da bleibe ich lieber hier. Da ist es dann schön ruhig.
Einmal hat sie mehrere Monate nach einer Führung eine Schachtel Pralinen bekommen. Auf jeder Praline ein Buchstabe, so dass sich der Satz ergab: Herzlichen Dank für die schöne Stadtführung. Da sei sie wirklich gerührt gewesen, sagt Renate Friedel. Zumal das Geschenk von einem Arnstädter kam.
Am Ende der Führung gibt es wieder Beifall. Als aber einer der Teilnehmer anfängt: Falls wir mal wiederkommen… unterbricht sie ihn. „Sie müssen einfach wiederkommen. Arnstadt ist doch mehr als einen Ausflug wert.“
Bald wird sie 69. Aber ans Aufhören denkt sie nicht. Solange die Füße mitmachen, will sie Stadtführerin bleiben.