„Marlitt war die J. K. Rowling ihrer Zeit“

Natalka Sniadanko. Foto: Katheryna Slipchenko

Natalka Sniadanko promoviert am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. In ihrer Dissertation will sie Gemeinsamkeiten im Leben und Schaffen der berühmten ukrainischen Schriftstellerin Olha Kobyljanska und deren deutschem Vorbild E. Marlitt untersuchen. Ein Gespräch anlässlich des 200. Geburtstags der Arnstädter Literatin.


Wie sind sie auf die Idee gekommen, die beiden Schriftstellerinnen zu vergleichen?
Im Tagebuch von Olha Kobyljanska bin ich auf den Namen von Eugenie Marlitt gestoßen. Die Marlitt war offenbar mehr als nur eine der Schriftstellerinnen, die Kobyljanska gelesen hat. Sie war nicht nur von ihren Texten angetan, wie wahrscheinlich viele in dieser Zeit. Marlitt war für Kobyljanska eine Art Vorbild. Sie schätzte das Emanzipatorische an ihren Figuren und bewunderte sie, weil sie es als Frau im Rollstuhl zu so einer Karriere gebracht hatte. Da auch Kobyljanska später auf einen Rollstuhl angewiesen war und sich mit feministischen Themen beschäftigte, fand ich es interessant, die Gemeinsamkeiten beider Frauen näher zu untersuchen.

Halten sie die Marlitt für eine frühe Feministin?
Ihre Ideen waren schon sehr emanzipatorisch. Die Heldinnen in ihren Büchern hatten alle eine „Macke“: Sie wollten lernen, Musik machen, schreiben, das war damals nicht alltäglich. Und ihre eigene Biografie zeigt ja auch, dass sie sich selbst verwirklichen wollte. Erst als Opernsängerin, dann als Schriftstellerin. „Ich will Geld verdienen, ich schreibe Romane“ – was für eine verrückte Idee für eine Frau ihrer Zeit.

Welche Gemeinsamkeiten haben Sie noch gefunden?
Es gibt ganz viele biografische Parallelen. Beide kommen aus vielköpfigen Familien mit wenig Geld. Beide blieben unverheiratet und kinderlos. Beide lebten mit den Familien ihrer älteren Brüder zusammen. Beide lebten isoliert und waren publikumsscheu und beide sind mit 40 im Rollstuhl gelandet. Es gibt auch viele Parallelen in den Texten, die ich gerne mit Hilfe der feministischen Literaturtheorie untersuchen will.

Was interessiert Sie besonders an der Person Marlitt?
Ich denke, dass Eugenie Marlitt die erfolgreichste deutsche Autorin bisher ist. Ich kenne keine andere, die so viele Bücher verkauft hat. Auflagen von 500 000 wie bei der Marlitt sind selbst bei preisgekrönten männlichen Autoren selten. Sie wurde selbst ins Chinesische übersetzt, ihre Honorare waren fürstlich, auch für heutige Verhältnisse. Marlitt war die J. K. Rowling ihrer Zeit – Menschen standen Schlange für die neue „Gartenlaube“ mit der nächsten Fortsetzung ihres Romans.
Bis heute wird sie herausgegeben, gelesen, übersetzt und verfilmt. Dass Trivialliteratur so lange hält, ist sehr ungewöhnlich. Es muss also schon eine starke Botschaft in ihren Werken enthalten sein.

Welche Botschaft könnte das sein?
Sie war eine erfolgreiche Frau, die ihren Erfolg nur sich selbst zu verdanken hatte. Das ist bis heute alles andere als selbstverständlich für Frauen und es hat sicherlich viele Leserinnen zur Selbstermächtigung inspiriert.

Hatten die beiden Schriftstellerinnen jemals Kontakt?
Bekannt ist nur, dass die Kobyljanska einen Brief an Marlitt geschrieben hat. Der ist zwar nicht erhalten, aber sie hat ihn in ihrem Tagebuch erwähnt. Sie sei ganz aufgeregt wegen des Briefes, schreibt sie dort, so aufgeregt, dass sie gar nicht mehr verliebt sei in ihren augenblicklichen Freund. Dass die Marlitt gegen die junge Liebe einer 18-Jährigen gesiegt hat, zeigt, wie stark Kobyljanska sie verehrt hat, auch wenn sie wohl nie eine Antwort auf ihren Brief erhielt.

Natalka Sniadanko wurde 1973 in Lwiw (Ukraine) geboren. Bisher sind elf Romane von ihr erschienen, zuletzt „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“. Sie ist auch als Übersetzerin und Journalistin tätig und lebt derzeit in Leipzig.

Olha Kobyljanska, geboren 1863 in einem kleinen Dorf in der Bukowina (damals Österreich, heute Ukraine), gestorben 1942 in Czernowitz, war eine ukrainische Schriftstellerin und Feministin. Sie schrieb zunächst auf Deutsch und entschied sich später bewusst für das Ukrainische. Ihre Werke gelten in der Ukraine als Teil des Literaturkanons.

E. Marlitt, eigentlich Friederike Henriette Christiane Eugenie John, wurde 1825 in Arnstadt geboren und starb 1887 ebenfalls in Arnstadt. Sie gilt als die erste Bestsellerautorin der Welt. Fast ihr gesamtes Werk erschien zunächst als Fortsetzungsroman in der Familienzeitschrift „Gartenlaube“. Am 5. Dezember 2025 wäre sie 200 Jahre alt geworden.

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