Es gibt (noch) kein Buch, das den Titel des Abends trägt. Wenn Ulla Gessner über ihre Wege von Rudisleben nach Tel Aviv erzählt, liegen nur lose Blätter vor ihr. Vielleicht wird es dieses Buch einmal geben. Dann, wenn sie ganz im Reinen ist mit sich und der Welt. Aber an diesem Abend erzählt sie nur. Auch nicht alles, über ihr problematisches Verhältnis zu ihrem Vater gibt es nur Andeutungen. Aber er war der Grund, warum die in Beeskow bei Berlin geborene Ulla überhaupt nach Rudisleben kam. Und später auch nach Tel Aviv.
Vier Jahre war sie alt, als ihre Zeit in Rudisleben begann. Sechs Jahr später musste sie wieder fort. Es war auf den ersten Blick nur eine deutschdeutsche Trennungsgeschichte, die Eltern gingen mit ihren großen Brüdern nach dem Westen, Ulla blieb bei der Oma inRudisleben zurück. Aber es war eine prägende Zeit damals in der Polde. Und wohl die einzige, in der sie richtig Kind sein durfte und glücklich war. Sie erzählte von dem Film „Ditte Menschenkind“, den sie in dem Kino in der Polde gesehen hatte und in dessen Titelgestalt sie sich wiederfand. Und von einem sowjetischen Offizier, der für sie an der Gera-Brücke eine Panzerkolonne anhielt weil sie anfing zu weinen. „Alles gut“ habe er ihr damals gesagt. Und als später im Westen alle von der russischen Bedrohung sprachen, musste sie daran denken. Ihr hatten die Russen nichts getan.
1954 wurde sie von der Mutter nach Köln geholt. Doch warm wurde sie dort nicht. Nach einer Lehre im Hotelfach ging sie nach Paris und ließ sich treiben wie ein Stück Holz im Meer. Manchmal war ihr das Glück hold wie bei einer Pferdewette, wo sie einfach auf die Pferde mit den für sie schönsten Namen setzte und 15 000 Mark gewann. Aber sie blieb auf der Suche, die sie über Spanien und Italien zurück nach Deutschland und schließlich nach Venezuelaführte. Im achten Monat schwanger, flog sie mit ihrem Ehemann dorthin, geschieden kam sie mit dem Sohn zurück. Es folgten 20 Jahre sesshaftes Leben als Lehrerin in Deutschland, bis sie ein Zufall mit dem in Deutschland geborenen und in Israel lebenden Journalisten Schraga Har-Gil zusammenführte. Sie habe sich in seine Stimme verliebt, sagt sie. Aber die Zuneigung war so groß, dass sie wieder alle Zelte in Deutschland abbrach und mit ihm nach Tel Aviv in Israel zog, wo sie heute noch lebt.
Die späte und tiefe Liebe ist für sie nichts Außergewöhnliches. Man kann sich ausrechnen, wie alt sie heute ist, ihr Lebenspartner ist 17 Jahre älter. Aber das Wort „Alter“ scheint im Sprachschatz von Ulla Gessner nicht vorzukommen.
Sie wohnte schon in Tel Aviv, als ihre Vergangenheit sie einholte. Ein Journalist hatte über die Firma ihres Vaters herausgefunden, dass sie Ausrüstungen für die Gaskammern in Auschwitzproduziert hat. Es wäre klüger, darüber in Israel nicht zu sprechen, wird ihr geraten. Aber sie spricht darüber, in einem Dokumentarfilm, den der Sohn ihres Freundes produziert und der inIsrael und Deutschland im Fernsehen läuft. Es soll ein positives Echo darauf in Israelgegeben haben, heißt es.
In Arnstadt spricht sie darüber nicht. Es ist einmal gesagt, aber man muss es wohl nicht immer wiederholen. Sie redet lieber von ihrem ersten Buch, in dem sie israelische Frauen interviewt hat. Ein wenig wie in „Guten Morgen, Du Schöne“ von Maxie Wander, das Vorbild verschweigt sie nicht. Und sie redet über Rudisleben.
In der Pause kommt plötzlich eine Frau mit einem Foto auf sie zu. Barbara Stanek hat es mitgebracht, es zeigt ihre gemeinsame Klasse der Rudislebener Schule bei einem Ausflug ins Freudental. Wie es so ist bei Treffen nach langer Zeit, werden mühsam die Namen hervorgekramt, alle bekommen sie nicht zusammen. Aber einige Geschichten werden wieder lebendig. Und Ulla Gessner wiederholt, was sie vorher schon vor dem Publikum gesagt hat: Es war wohl ihre schönste Zeit hier bei der Großmutter.
Auf dem Klassenfoto ist Ulla Gessner nicht zu sehen. Sie weiß nicht mehr warum, aber vielleicht war sie unterwegs, so wie die meiste Zeit ihres Lebens. Nun sei sie angekommen, sagt sie. Und vielleicht gibt es irgendwann ein Buch darüber, warum sie wirklich auf die Reise ging.