Der vergessene Komponist

Arnstadt könnte am 23. Oktober des 50. Todestages eines erfolgreichen Komponisten gedenken. Aber 50 Jahre nach seinem Tod ist Felix Pietge vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Wer war dieser Mann? Und warum wurde er vergessen?

23 Vorhänge – Sein größter Erfolg

Der 18. Oktober 1947 war für Felix Pietge ein besonderer Tag: Am Landestheater Altenburg wurde seine jüngste Oper „Desanka“ uraufgeführt. „Mit außergewöhnlich starkem Erfolg“, notierte er im Familienstammbuch, „am Schlusse der Oper hatte ich 23 Vorhänge“. Desanka sei eine Volksoper mit „auffallendem Melodienreichtum und ungekünstelter Harmonik, die direkt ins Ohr geht“, stand auf dem Programmzettel. „Die Musik, die Felix Pietge schrieb, ist urgesund“, so der Kritiker der „Altenburger Nachrichten“, der Komponist erzeuge „Klangbilder von einer oft rührenden Innigkeit und Schönheit“.

Der Erfolg von „Desanka“ setzte sich 1948 am Gothaer Theater fort. Dort hatte die Volksoper am 11. Dezember Premiere. Dass „Desanka“ sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern gut ankam, sprach sich sogar bis nach Berlin herum: Das „Büro für Theaterfragen“ empfahl der Staatsoper Unter den Linden, Pietges Volksoper in ihr Repertoire aufzunehmen.

Szenenbild aus „Desanka“ in Altenburg.

Die Musik des Arnstädter Komponisten traf damals offenbar den Nerv der Zeit. Sie war keineswegs modern im Sinne von Schönberg, Strawinsky oder Eisler, sondern eher an der Romantik orientiert. In seinem Arnstädter Haus hingen Bilder von Franz Liszt und Richard Wagner, viele seiner Werke erinnern an den Stil von Engelbert Humperdinck. Aber genau diese Musik war es wohl, wonach sich viele Menschen nach dem Ende des Krieges sehnten: Voller Harmonie, kräftig, aber träumerisch. Und sie stammte von einem Menschen, der die Nationalsozialisten verabscheut und unter ihnen gelitten hatte. Das konnte man damals nicht von vielen Komponisten sagen.

Dabei entsprach Felix Pietge keinesfalls dem Idealbild eines sozialistischen Künstlers. Er war ein Kind des Kaiserreichs und blieb es sein Leben lang, mit keiner der gesellschaftlichen Veränderungen danach konnte er sich richtig anfreunden. Die Novemberrevolution nannte er „schamlos“, die Nationalsozialisten „Hochstapler“, aber auch deren Niederlage empfand er nicht als Befreiung, sondern Ausbeutung durch die Besatzer, ob nun Amerikaner oder Russen. „Wir sind ein armes Volk geworden“, schrieb er nach 1945 in das Familienstammbuch.

Felix Pietge ist schwer einzuordnen. Politisch saß er zwischen allen Stühlen. Er erlebte zwei Weltkriege, war aber nie beim Militär. Er war mathematisch begabt und ein erfolgreicher Beamter, aber seine Liebe gehörte der Musik. Er schloss nie ein Musikstudium ab, aber er komponierte sein Leben lang.

Hoffnungsvoller Anfang und ein Schicksalsschlag

Herrmann Adolf Felix Pietge wurde am 8. Februar 1878 in Weimar geboren und wuchs in einem musik- und kunstinteressierten Elternhaus auf. Als er zehn Jahre alt war, bekam er Klavierunterricht und schon ein Jahr später konnte er zum Tanze aufspielen, „wenn sein Vater bei Gesellschaftsabenden dies wünschte“. Dabei war der kleine Felix keinesfalls ein Stubenhocker, er hatte viele Freunde, mit denen er bevorzugt den Sport- und Turnplatz der seinem Elternhaus gegenüberliegenden Kaserne unsicher machte. Aber zur Musik, das war schon früh klar, fühlte er sich besonders hingezogen. Er sei „dem inneren Drange nach (…) Musiker und Komponist“, sagte er über sich selbst.

Zunächst sah sein Lebensweg auch nach einer geradlinigen Musikerkarriere aus. Sein Klavierlehrer bescheinigte ihm das absolute Gehör und ein großes Talent, nach einer Berufsausbildung begann er 1899 in seiner Heimatstadt Weimar Musik zu studieren. Doch der plötzliche Tod seines Vaters führte zu einer jähen Wendung. Als Vormund wurde sein Onkel eingesetzt, der darauf drang, dass Felix einen „ordentlichen“ Beruf ergreifen sollte.

So brach er schon nach einem Jahr das Musikstudium ab und wurde Landvermesser. Das Musizieren und Komponieren betrieb er ab diesem Zeitpunkt nur noch nebenbei.

Karriere als Vermesser

Seine Karriere im Vermessungswesen war beachtlich. Sie führte ihn unter anderem nach Weimar und Apolda, bevor er 1922 als Vermessungsrat die Leitung des Katasteramtes in Neustadt an der Orla übernahm. Seine fachliche Kompetenz bewies er mit der Entwicklung einer „Pietgeschen Hyperbeltafel“, die Vermessern die Arbeit erleichterte und in Fachzeitschriften wohlwollend besprochen wurde.

Felix Pietge führte ein geregeltes Beamtenleben. Er heiratete, bekam einen Sohn und machte mit der Familie Wanderurlaub in den Alpen. Aber das war nur die eine Seite. Die andere war die Musik.

An den Abenden und Wochenenden vervollkommnete er sein Klavierspiel und er komponierte. Völlig allein, ohne Anleitung und Unterstützung. So entstanden das Ballett „die Jahrmarktsprinzessin“, die Operette „der Spielprinz“, der Operettenschwank „Strandkorb Nr. 10“, die Operette „Molly“, die Musik zu dem Weihnachtsmärchen „die Glückssucher“, Kammermusik und Lieder. Pietge komponierte nicht nur, sondern nahm auch alle Orchestrierungen selbst vor, das heißt, er schrieb für alle Instrumente die entsprechenden Notenblätter mit der Hand.

Mit der Operette „Der Bummelonkel“ hatte er damit in den 20er Jahren seinen ersten öffentlichen Erfolg: Das Stück habe „in Köln und Düsseldorf mehrere Wochen den Spielplan erfolgreich beherrscht“ und sei auch „an einigen kleineren Bühnen herausgekommen“, vermerkte Pietge im Familienstammbuch.

45 Jahre in Arnstadt

1929 kam Felix Pietge als Chef des hiesigen Katasteramtes nach Arnstadt und blieb der Stadt bis zum Lebensende treu. 45 Jahre lebte er hier, wobei der Anfang wohl etwas holprig war. Er kam zunächst allein, die Familie blieb in Neustadt. Er fand zwar eine Unterkunft in einer (leider heute abgerissenen) Villa in der Gerastraße, kam aber mit dem behördlichen Tagegeld von vier Reichsmark nach eigenem Bekunden nicht aus. „Als Vorsitzender einer Behörde kann ich weder in einem billigen Speisehause meine Mahlzeiten einnehmen noch mich mit einer Schlafstelle begnügen, was übrigens auch ganz meinen Gewohnheiten widerspräche“, schrieb er an das Thüringer Innenministerium in seinem Gesuch um Verdoppelung seines Tagegeldes. „Dazu scheint die Geschäftswelt von Arnstadt, soweit ich die Erfahrung gemacht habe, auf gute, nicht zu niedrige Preise zu halten“. Das Gesuch wurde abgelehnt.

Trotzdem lebte sich Pietge schnell in Arnstadt ein. Und er lernte über seine Arbeit im Katasteramt einen interessanten Menschen kennen: den Architekten Martin Schwarz, der in Arnstadt von der Schule am Schlossplatz über Privathäuser bis zur Synagoge in der Krappgartenstraße schon zahlreiche Spuren hinterlassen hatte. Schwarz und Pietge verband aber nicht nur die berufliche Karriere, sondern auch die Liebe zur Musik: Schwarz spielte Geige. Der Architekt hatte für seine Familie am Kupferrasen ein Haus gebaut, nicht weit entfernt von Pietges Wohnung in der Gerastraße. Als 1937 die Ehe von Schwarz in die Brüche ging und er nach Erfurt zog, suchte er einen Käufer für sein Haus. Da Pietge es von Besuchen gut kannte, griff er zu. Zwar war der Musiker und Vermesser lebenslang nie sonderlich wohlhabend, aber der Erlös aus dem Verkauf seines Elternhauses in Weimar reichte für die Villa am Kupferrasen und sogar noch für eine kleine Hütte in Masserberg, das damals zum Katasteramtsbezirk Arnstadt gehörte und Pietge als Rückzugsort sofort gefallen hatte.

Es hätte eine glückliche Zeit für die Familie anbrechen können. Doch stattdessen begannen die Denunziationen.

Frühpensionierung

Felix Pietge war kein Widerstandskämpfer gegen die Nazis, aber er hielt sie für eine Ansammlung von „Unfähigen und Hochstaplern“ – und ließ das mehr oder weniger offen auch in seiner Behörde durchblicken. Zunächst waren es eher Kleinigkeiten wie ein flapsiger Kommentar zum NS-Engagement eines Mitarbeiters, die über die NSDAP-Kanäle seiner Behörde nach oben gemeldet wurden. Aber als sich solche Beschwerden häuften, kam es zur offenen Auseinandersetzung. In Pietges Personalakte findet sich ein Schreiben des Thüringer Innenministers an ihn, in dem es heißt: „Ich ersuche sie, sich nunmehr künftig so zu verhalten, wie es sich für einen nationalsozialistischen Beamten gehört. Wenn Sie sich diese Belehrung nicht annehmen wollen, und sich weiterhin in dieser versteckten Art gegen die deutsche Volksgemeinschaft aufführen zu können glauben, dann werde ich rücksichtslos gegen Sie vorgehen“.

Felix Pietge versuchte noch eine Weile zu taktieren und durchzuhalten, gab aber schließlich auf und bat 1939 um seine vorzeitige Pensionierung „aus gesundheitlichen Gründen“. Seinem Antrag wurde umgehend stattgegeben. Am 1. September 1939, dem Beginn des zweiten Weltkriegs, war er plötzlich mit 62 Jahren Frühpensionär.

Beruflich war das eine Katastrophe, musikalisch ein Glücksfall. Während in Europa ein schrecklicher Krieg tobte, zog er sich oft ins Sommerhaus nach Masserberg zum Komponieren zurück. Es entstanden in dieser Zeit insgesamt drei Sinfonien, das Chorwerk „Graf von Gleichen“, das Ballett „Prima Ballerina“ und eben jene Volksoper „Desanka“, die ihm ab 1947 so viel Erfolg bescheren würde. Aufgeführt wurde bis zum Kriegsende nichts von ihm, schließlich war er in Ungnade gefallen. Doch in kleinem Kreise erklangen seine Werke, bei den „Hauskonzerten“, die er regelmäßig im Haus am Kupferrasen veranstaltete und zu denen er gute Freunde nicht nur als Publikum, sondern auch als Mitwirkende einlud. Bis zu 12 Gäste fanden am großen Esstisch im „Salon“ des Hauses Platz, dessen Wände in Bordeaux-Rot gestrichen waren und in dessen Mitte ein großer schwarzer Flügel stand.

Es ist eine Einladung zu einem solchen Hauskonzert erhalten. Am 18. Januar 1942, als die Schlacht bei Stalingrad in die entscheidende Phase ging, musizierte Pietge mit seinem alten Freund, dem Architekten Martin Schwarz, in dessen ehemaligem Haus in Arnstadt. Auf dem Programm standen natürlich Werke des neuen Hausherren.

Einladung zum Hauskonzert mit Martin Schwarz

 Neuer Anfang mit 67 – für fünf Jahre

1945 begann auch für Felix Pietge eine neue Zeit. Fachleute wie ihn, die von den Nazis aus dem Amt gedrängt worden waren, gab es nicht viele. Und so wurde Felix Pietge 1945 wieder als Chef des Arnstädter Katasteramtes eingesetzt, obwohl er schon 67 Jahre alt war. Er bekam anfänglich die Leitung der Amtsbezirke Gotha und Saalfeld „nebenbei“ mit übertragen, bis sich geeignete Personen fanden. Pietge stürzte sich in die Arbeit, es war ein schönes Gefühl, wieder gebraucht zu werden. Und es gab öffentliche Anerkennung für seine Volksoper „Desanka“.

Doch die zweite berufliche Karriere währte nur wenige Jahre. 1950 wurde das Katasterwesen in der jungen DDR reformiert – und alle Mitarbeiter mussten sich beim neuen Dienstherren, dem Landrat, neu bewerben. Auch Felix Pietge, obwohl schon 72 und auf dem linken Auge erblindet, schickte seine Bewerbung ab, die allerdings aus Altergründen abgelehnt wurde. Pietge schrieb einen ziemlich wütenden Brief zurück, in dem er alle seine Verdienste aufführte und sich sogar mit der Staatsführung verglich: „Der Präsident der deutschen Republik ist älter als ich“. Tatsächlich war Wilhelm Pieck zwei Jahre vor Pietge geboren worden.

In dem Brief beklagt er auch die geringe Höhe seiner Altersrente, denn die Beamtenpension, die ihm bis 1945 gezahlt worden war, gab es in der DDR nicht mehr. Und er weist das offenbar kursierende Gerücht zurück, er hätte doch durch seine Musik genug Einnahmen: „Ich kann durch Belege nachweisen, dass die Anfertigung der Aufführungsmaterialien wesentlich mehr gekostet hat, als die Tantiemen einbringen“.

Diese Passage belegt eine Schwierigkeit Pietges mit seinen Werken: Er hatte keinen Verlag, der sie druckte. Zwar bereitete es ihm offenbar keinerlei Schwierigkeiten, die Notenauszüge für alle Instrumente (und Sänger) selbst anzufertigen, aber wenn es zur Aufführung kommen sollte, musste er diese handgeschriebenen Notenblätter aufwändig fotokopieren lassen – und das war teuer.

Pietges Einwände fruchteten nichts, er wurde als Vermesser in den „wohlverdienten Ruhestand“ komplimentiert. Zwar wurde ihm auf Antrag eine kleine Zusatzrente gewährt und er bekam die Genehmigung, als Klavierlehrer ein bisschen Geld nebenbei zu verdienen, aber er haderte wohl bis zum Lebensende mit seiner finanziellen Lage. Die dürfte der Hauptgrund gewesen sein, warum er trotz seines hohen Alters unbedingt weiterarbeiten wollte, denn Angst vor Langeweile dürfte er nicht gehabt haben. Er hatte ja die Musik.

Zulassung, mit der Pietge Klavierunterricht erteilen durfte

Neue Werke und erfolgreiche Aufführungen

So konnte er die Arbeit an der großen 3-aktigen romantischen Oper „Der Schmied von Perth“ vollenden und eine weitere 3-aktige Oper „Die Liebesprobe“ schreiben. Es entstanden neue Sonaten und Liederzyklen und Pietge begann auch, Stücke für Volkskunstgruppen zu komponieren, so für das Masserberger Amateurorchester.

handgeschriebenes Notenblatt aus „der Schmied von Perth“

 

Zur 1250-Jahrfeier Arnstadts 1954 komponierte Pietge einen Festmarsch, der allerdings nicht in der offiziellen Festveranstaltung, sondern nur in einem Nebenkonzert des Kreiskulturorchesters uraufgeführt wurde. Im Hauptkonzert mit dem Staatlichen Sinfonieorchester Thüringen gab man einem anderen zeitgenössischen Komponisten aus Mühlhausen dem Vorzug.

Zu Ehren seines 80. Geburtstages im März 1958 fand im Arnstädter Rathaussaal eine kammermusikalische Morgenfeier für Felix Pietge statt, organisiert von der „Arbeitsgemeinschaft für Bachpflege“. Deren Gründerin, die Musikwissenschaftlerin Dr. Annemarie Niemeyer, gehörte zum engen Freundeskreis Pietges und förderte die Verbreitung seiner Musik nach Kräften. Bei der Feier für den Jubilar spielte sie Klavier, ein anderer Freund Pietges wirkte als Sänger mit: der Bariton Hans-Dieter Danneberg.

Später beschäftigten sich auch die großen Thüringer Orchester mit seinen Werken. Zur Uraufführung seiner 3. Sinfonie in c-moll kam am 26. März 1960 das Staatliche Sinfonieorchester Thüringen unter Leitung von Generalmusikdirektor Fritz Müller nach Arnstadt – es wurden aber nur zwei Sätze daraus gespielt8. Die Konzertkritik vermerkte: „Felix Pietge hat sein Können an den großen klassischen Meistern geschult. Er ist ein Sinfoniker, der alle Klangfarben des großen Orchesters beherrscht und seine Tondichtung kraftvoll und schön in ihnen gestaltet“.

In voller Länge wurde die 3. Sinfonie 1964 in Sondershausen vom Lohorchester uraufgeführt. Im gleichen Jahr brachte das Staatliche Sinfonieorchester Thüringen die beiden Balladen „Totentanz“ und „Chastelard“ nach Texten Goethes in Arnstadt zur Uraufführung. Generalmusikdirektor Fritz Müller äußerte sich damals anerkennend über die tonmalerischen Fähigkeiten des Komponisten Felix Pietge: „Die saubere und farbige Instrumentation und das sichere Gefühl für dramatische Effekte wurden von unseren Musikexperten sehr achtungsvoll betont. Gewiss kann Herr Pietge nicht als moderner Komponist bezeichnet werden, aber seine Musik kommt von Herzen und ist großzügig von den alten Meistern abgeleitet und zum großen Teil auf den Traditionen der Vergangenheit gebaut und gleichsam aus ihnen gewachsen“.

Auch in der Folge gab es immer wieder Aufführungen von Werken Pietges durch Thüringer Orchester in Arnstadt, bei Anrechts- und Sonderkonzerten. Anlässlich seines 90. Geburtstages im Jahr 1968 spielte das Staatliche Sinfonieorchester Gotha in Arnstadt noch einmal Orchesterstücke aus seiner erfolgreichsten Oper „Desanka“.

Es war das letzte Mal, dass Musik von Felix Pietge öffentlich erklang. Am 23. Oktober 1972 starb er – und geriet in Vergessenheit.

Felix Pietge vor seinem Sommerhaus in Masserberg. Das Foto stammt aus dem Familienstammbuch Pietge. Namen und Geburtsjahr hat der Komponist selbst geschrieben, das Todesjahr wurde durch seinen Sohn ergänzt.

Der Mensch Felix Pietge

„Er hatte etwas preußisches an sich“, sagt sein Enkel Reinhard Pietge. Davon zeugt das Bild, das Felix Pietge selbst für das Familienstammbuch auswählte: Er sitzt, genüsslich Zigarre rauchend, vor seinem Sommerhaus in Masserberg.

Zigarren liebte er bis ans Lebensende, ebenso wie edle Katzen. Die konnte er stundenlang streicheln. Er trank kaum Alkohol, aber viel Kaffee. Wenn man als Kind seine Aufmerksamkeit erregen wollte, hörte man ihm an besten beim Klavierspielen zu – oder man konfrontierte ihn mit einem mathematischen Problem. „Er war mathematisch mindestens genauso begabt wie als Musiker“, erzählt Enkel Reinhard. „Wenn wir schwierige Mathe-Aufgaben lösen mussten, sind wir immer zu ihm gegangen. Danach hatten wir zwar auch noch nichts verstanden, aber sein Vortrag war beeindruckend“.

Veronika Sandmann hat Felix Pietge als „ruhigen, lieben, freundlichen Mitmenschen“ in Erinnerung. Sie wohnt in Masserberg, gleich neben dem ehemaligen Sommerhaus der Pietges, das in deren Abwesenheit von ihrer Familie betreut wurde. „Wenn er in Masserberg war, kam er sonntags zu uns zum Essen, meine Großmutter hat gekocht. Seine Spezialitäten waren Klöße und Braten. Und er hat zu mir immer den Spruch gesagt: ‚Vroni, Du musst das Fleisch zuletzt essen. Damit der Magen denkt, er habe nur gute Sachen bekommen‘“.

Felix  Pietge sei sehr bescheiden gewesen, sagt Frau Sandmann. In ihrer Erinnerung trug er oft ein graues Jackett und eine Baskenmütze. Ein netter alter Herr eben.

Aber warum geriet dieser nette alte Herr mit dem großen kompositorischen Werk in Vergessenheit?

Zum einen war es die fehlende Nähe zur Avantgarde. Pietge komponierte keine „moderne“ Musik, die zwar nur wenige verstanden, aber breit gefördert wurde. Er fühlte sich der Tradition verpflichtet. Zum anderen ist es wohl der Tatsache geschuldet, dass nie eine Note von ihm gedruckt wurde. Alle Partituren für seine Aufführungen schrieb er selbst mit der Hand und vervielfältigte sie mittels Fotokopie. Der wichtigste Grund aber könnte seine Unangepasstheit sein, er freundete sich mit keinem Gesellschaftssystem an, war nie Mitglied eines Verbandes und verfertigte keine Jubelhymnen auf die jeweils Herrschenden. Typisch für das Verhältnis zwischen ihm und der Obrigkeit ist seine Jubiläumsfeier zum 80. Geburtstag, die von engen Freunden organisiert wurde. Sie fand zwar im Arnstädter Rathaus statt, aber von der Stadtverwaltung, dem Rat des Kreises oder der regionalen SED-Führung kam niemand zum Gratulieren. Sie konnten mit Felix Pietge einfach nichts anfangen. Auch zum 90. Geburtstag kam nur Schriftliches: ein Glückwunschschreiben des Ministeriums für Kultur und des Verbandes deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler und eine Ehrenurkunde des Rates des Kreises.

Hinzu kam, dass seine Kinder nicht seine musikalischen Talente geerbt hatten – und so auch nicht dafür sorgen konnten, dass sein Werk weiter im öffentlichen Gedächtnis blieb.

Im Herbst 2021 allerdings fuhr ein Auto vor Pietges Haus am Arnstädter Kupferrasen vor und fünf Koffer wurden eingeladen, prall gefüllt mit handgeschriebenen Notenblättern. Reinhard Pietge übergab den musikalischen Nachlass seines Großvaters Felix an das Landesmusikarchiv Weimar. Dort werden die Noten nun digitalisiert und für die Nachwelt bewahrt. Denn Felix Pietge verdient es nicht, vergessen zu werden. Nicht nur wegen der 23 Vorhänge, die bei der Uraufführung seiner Volksoper „Desanka“ bekam.

Dieser Beitrag erscheint auch im diesjährigen heimatkundlichen Lesebuch des Thüringer Geschichtsvereins Arnstadt und in gekürzter Form in der Lokalausgabe der „Thüringer Allgemeine“.

Danke an Bernhard Baudisch und Veronika Sandmann für die Unterstützung. Aber mein besonderer Dank gilt Reinhard Pietge, ohne den dieser Beitrag nie entstanden wäre.

 

Anlage: Werkverzeichnis Felix Pietge (Auszug)

Opern / Operetten / Ballette

Ballett in zwei Bildern „Die Jahrmarktsprinzessin“
3-aktige Operette „Der Spielprinz“ Libretto von Paul Simon
3-aktige Schwankoperette „Der Bummelonkel “ Libretto von Curt Thiergen
einaktiger Operettenschwank „Strandkorb Nr. 10“ Libretto von Albert Matthaei und Paul Simon
3-aktige Operette „Molly“ Libretto von Paul Simon und Heinz Wilden
Musik zu dem Else Müller-Walsdorfschen Weihnachtsmärchen „Die Glückssucher“, 4 Akte
Chorwerk „Der Graf von Gleichen“
2-aktige Volksoper „Desanka“ (Masserberg 1945) Libretto von Paul Wolf
3-aktiges Ballett „Prima Ballerina “
Ballett für Blasorchester
3-aktige Operette „Fortuna“ Libretto von Paul Simon
große 3-aktige romantische Oper „Der Schmied von Perth“ (1948) Libretto von Max Roßberg
3-aktige Oper „Die Liebesprobe“ (1950)

Orchesterwerke

Sonate d-moll für Violoncello und Klavier
Sonate Nr. 2 in a-moll für Violine und Klavier
Phantasie für Orchester und Violine in h-moll
I. Sinfonie
II. Sinfonie
III. Sinfonie c-moll
Festmarsch zur 1250-Jahrfeier der Stadt Arnstadt (1954)
Romanze in h-moll für Violine und Klavier

 Liederzyklen

Felix Pietge Lieder
Lieder für Bariton
Abendlieder
Erweckung, 5 Lieder für Alt oder Bariton
Liebeslieder für Bariton mit Klavierbegleitung
Neue Volkslieder von Heinrich Gutberlet in der Vertonung von Felix Pietge
Heilige Stunde, 5 Lieder für Alt

Quellenverzeichnis

Privatarchiv Reinhard Pietge
Archiv Thüringer Allgemeine
Staatsarchiv Altenburg, Bestand Landestheater
Altenburger Nachrichten, 21. Oktober 1947
Misha Aster: Die bewegte Geschichte der Berliner Lindenoper, Siedler Verlag 2017, Anmerkungen
Staatsarchiv Rudolstadt, Personalakten Felix Pietge
Katja Dolinschek: Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien im Fach Musik, Zum Liedschaffen des Arnstädter Komponisten Felix Pietge, Jena 1994
Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt, Bestand Stadtverwaltung, 1250-Jahrfeier

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