Bach war nur vier Jahre da, Bechstein auch. Wenn man unter den Arnstädter Berühmtheiten nach einem echten einheimischen Gewächs sucht, landet man zwangsläufig bei Eugenie John. Sie wurde vor 200 Jahren hier geboren und später auch begraben. Ihre bekanntesten Werke schrieb sie als „Marlitt“ in Arnstadt. Und sie liebte dieses Städtchen – mit Einschränkungen.
Schon die Auswahl der Schauplätze ihrer Romane spricht dafür, dass sie Arnstadt gemocht haben muss. Es sind selten die richtigen Namen der Häuser und Plätze, die in ihren Geschichten vorkommen, man muss schon etwas Detektiv spielen. Bei der Marlitt ist es so ähnlich wie bei der Puppenstadt „Mon plaisir“: Man erkennt vielleicht nicht genau, wo die Szene spielt, aber man kann es fühlen. Und man spürt eine Sympathie der Schöpferin mit den Kulissen, in denen sie ihre Figuren agieren lässt.
Aber wie schaute der Mensch Eugenie John auf ihr „altfränkisches Vaterstädtchen“, wie sie Arnstadt gern nannte? Eine Frau, die in ihrer ersten Karriere als Sängerin so viele prunkvolle Städte gesehen und in Wien ihre glücklichsten Jahre verbracht hatte?
In einem Brief an den Fürsten Pückler fasste sie ihr Verhältnis zur Heimatstadt in einem Satz zusammen: „Arnstadt ist eine Kleinstadt, so ziemlich nach jeder Richtung hin; aber für mein Herz hat es den Vorzug, meine Vaterstadt zu sein.“ Sie bekannte sich zu ihrer Geburtsstadt und hatte als junge Sängerin kein Problem damit, dass auf den Programmzetteln für eine „Freischütz“-Aufführung 1849 nicht ihr richtiger Name stand, sondern „Fräulein Arnstädt“.
Was hat die Marlitt an Arnstadt besonders geschätzt?
Es war die Geborgenheit ihrer Familie, auch wenn ihr eine eigene Partnerschaft nie vergönnt war. Aber es waren auch die Berge, obwohl sie nicht sehr hoch sind, der Wald ringsum und die gute Luft. „Die kräftige heimische Luft, der Verkehr mit den meinen, die mich auf den Händen tragen, die ungestörte Ruhe, die mich umgibt und selbst das, mir durch eine Reihe von Jahren entfremdete Bewusstsein, uneingeschränkt über mein eigenes Tun und Lassen gebieten zu können – dies alles hat im Verein mit einer Badekur während des Sommers sehr wohltätig auf mich gewirkt“, schrieb sie 1864. Das erste und zweite Lebenskapitel der Eugenie John waren abgeschlossen, die Karriere als Sängerin hatte sie gesundheitsbedingt an den Nagel hängen müssen und in der Rolle als Gesellschafterin der Fürstin Mathilde war sie ebenfalls an ihre Grenzen gestoßen. Nun kehrte sie mit fast vierzig Jahren nach Arnstadt zurück und es begann der dritte, ihr erfolgreichster Lebensabschnitt als Bestsellerautorin Marlitt – mit einer Badekur in ihrer Heimatstadt.
Arnstadt versuchte sich seit 1851 in einen Solbad-Kurort zu verwandeln, wie man bei der Marlitt sieht, hatte die Sole aus Rudisleben eine belebende Wirkung. Was die angehende Autorin aber nicht davon abhielt, sich über die immer zahlreicher werdenden Kurgäste vor allem aus Berlin aufzuregen. Das folgende Zitat beweist, dass die Marlitt beileibe keine süßliche Trivialschriftstellerin war, sondern sprachlich durchaus ordentlich zulangen konnte: „Die nahe vorüberbrausende Lokomotive bringt alljährlich einen Schwarm Berliner, die ihrer Häuseroase in der Brandenburger Sandwüste entrinnen, um Heilung ihrer verdorbenen Nerven in der kräftigen Thüringer Luft zu suchen. Die ganze Originalität meines früher so prächtig altfränkischen Vaterstädtchens verkriecht sich vor diesen bebrillten Geheimräten und blasierten Damengesichtern, die mit ihrer enormen Crinoline (eine Art Reifrock, d. A.) die Wege unsicher machend, hochmütig auf die zuvorkommenden Kleinstädter herabblicken, und in sehr eigentümlicher Weise das bevorzugt intelligente Preußentum repräsentieren.“

Der Marlitt gefiel also nicht alles, was in Arnstadt passierte. Als sich nach der Veröffentlichung ihrer ersten Romane der Ruhm einstellte, wollten ihr immer mehr Verehrer in der Villa unter der Alteburg, die sie liebevoll „Marlittsheim“ nannte, ihre Aufwartung machen. Die meisten Besucher wies sie ab, konnte aber nicht verhindern, dass vor ihrem Haus Ständchen und Elogen vorgetragen wurden. Als hochgradig störend empfand sie einen Fackelzug, der ihr zu Ehren von den Teilnehmern eines in Arnstadt tagenden Lehrerkongresses durchgeführt wurde. Cornelia Hobohm schreibt dazu in ihrer Marlitt-Biografie: „Der Rummel um ihre Person ist ihr unheimlich, viel lieber will sie ihre Werke für sich sprechen lassen. Sie wirkt dabei nicht hochmütig, sondern eher bescheiden und demütig vor so viel Ehrbezeugung und Lob.“
Gelegentlich litt Eugenie auch darunter, dass Arnstadt nicht die Einkaufsmöglichkeiten bot, die sie gerne gehabt hätte. „In unserer kleinen Stadt habe ich gar keine Auswahl an Spielzeug“, klagte sie einmal – und bat ihre Wiener Freundin, eine Puppe zu besorgen, die sie verschenken wollte.
Eine besondere Beziehung hatte sie zur Liebfrauenkirche. „So weit in die Welt hinaus mich auch das Schicksal geführt, so viel Herrliches und Gewaltiges meine Seele in sich aufnehmen durfte, die zwei Türme der Liebfrauenkirche im fernen Thüringen haben bei mir immer vor Augen gestanden und die tiefen Klänge der großen Glocke im Ohr fortgeklungen“, schrieb sie an einen Arnstädter Stadtrat. Sie unterstützte die Kirchensanierung mit großzügigen Spenden und warb öffentlichkeitswirksam dafür, dass noch mehr Geld hereinkam. Interessanterweise sah sie die Liebfrauenkirche dabei als Gegenstück zur Oberkirche, der sie offenbar gar nichts abgewinnen konnte: „Ich habe als Kind oft genug durch das Schlüsselloch des Portals (der Liebfrauenkirche) in die menschenverlassene Stille der alten Kirche gelugt, von heiligen Schauern überrieselt, welche mir unsere sogenannte Oberkirche mit ihren unheiligen Schubkasten und Vogelbauern, diesen Zeugen engherzigen Kastendenkens, nie eingeflößt hat.“ Die Fürstenstände de Oberkirche mit Vogelbauern zu vergleichen, war für damalige Verhältnisse schon ein starkes Stück. Aber die Marlitt konnte sich eine solche Meinung leisten, sie war schließlich wer.
Wenn es um die Außenwirkung ihrer Heimatstadt ging, war die Autorin aber Lokalpatriotin. So lobte sie die Arnstädter Möglichkeiten, einer erkrankten Verwandten ihrer Wiener Freundin Linderung oder gar Genesung zu bieten: „Wäre nur das kleine dumme Arnstadt Wien um die Hälfte des Weges näher, dann ließe ich Dir keine Ruhe, bis Du mir unsere Frau Lori sechs bis acht Wochen hierher schicktest. Sie sollte ganz gewiss frisch und rosig wieder heimkommen – unsere Thüringer Luft hat für angegriffene Nerven und blasse Wangen eine wahre Heilkraft im Atem, und an liebevoller Pflege sollte es im Marlittsheim ganz gewiss nicht fehlen.“
Die Marlitt war verwoben mit ihrer Heimat, mit ihrer Familie und mit ihrer Herkunft. Wie stark, wird in einen sehr emotionalen Brief an Fürst Pückler deutlich: „Ich habe mich viele Jahre lang auf dem Parkett aristokratischer Salons bewegt, habe Hofluft geatmet, und fast ausschließlich mit Personen verkehrt, die gar keinen Begriff von jener bürgerlichen Einfachheit hatten, und deshalb den Anspruch an mich erhoben, dieselbe auch zu vergessen. Es ist mir trotzdem sehr leicht geworden, in meine Familienverhältnisse zurückzukehren, denn das ist ja der Boden, dem ich entsprossen bin, dem ich angehöre mit allen Fasern meiner innersten Natur; ich bin sofort wieder in ihm eingewurzelt, und werde ihn nur wieder verlassen, in dem Augenblick, wo ich sterbe.“
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