Am Rande des großen Waldes, dort wo sich die Hügel langsam zu Bergen strecken, liegt Marlittshausen. Ein kleines Städtchen, das seinen Namen wohl einer seiner erfolgreichsten Töchter verdankt. Wanderer, deren Weg durch Marlittshausen führt, sind entzückt ob der malerischen Gassen und Giebel und des Lobes voll über die freundlichen Menschen. Gepriesen wird auch das prächtige Rathaus. Jenes aber ist mit einem Fluch belegt: Wer es betritt, verfällt in Argwohn und Streitlust.
Man kann die Marlittshäuser wahrlich beneiden. Wer einen Broterwerb sucht, hat hier häufiger Glück als anderswo. Die Häuser sind fast allesamt hübsch anzusehen. Wer Geselligkeit bevorzugt, muss sich zwischen vielen Vereinen entscheiden. Wer seine Ruhe haben will, kann an der Schlossruine rasten oder durch Schlossgarten und über den Alten Friedhof flanieren. Das kleine Museum birgt wahre Schätze und die Liste der zu rühmenden ehemaligen Bürger ist lang. Kurzum, das Leben in dem kleinen Städtchen könnte die reine Freude sein, wäre da nicht das Rathaus. Rot und gülden steht es stolz am malerischen Markt und birgt doch ein dunkles Geheimnis: Es saugt die Weisheit aus den Menschen, die seine Schwelle überschreiten.
Seit wann das so ist, vermag niemand so recht zu sagen. Manche behaupten, es sei schon seit dem großen Brande so, der einst von einem Bürgermeister verursacht wurde und die halbe Stadt in Schutt und Asche legte. Andere meinen, erst die jüngste Renovierung habe das Unheil verursacht, als das Rathaus besonders rot gestrichen wurde, obwohl der damalige Bürgermeister alles andere als besonders rot war. Sei’s drum. Wir werden es wohl nie ganz sicher wissen. Doch der Fluch ist gerade in diesen Tagen wieder schmerzlich zu spüren.
Viele tapfere Prinzen und Prinzessinen versuchen immer wieder, den Fluch zu brechen. Ob sie nun Georg heißen oder Alexander, Christian oder Sebastian, Frank oder Ilka, es sind honorige, humorvolle und kluge Menschen, die so reden können, wie das Volk es versteht. Manchmal trifft man sie miteinander scherzend in einem der Wirtshäuser der Stadt und ist erstaunt, welch kluge Gedanken ihnen über die vom Weine gelöste Zunge kommen. Doch wehe, wenn sie das Rathaus betreten. Hinweggefegt ist alle Empathie. Verflogen sind alle klugen Gedanken. Es herrscht Argwohn, Streitlust und Missgunst. Kurz: Es ist die Hölle. Die Betroffenen selbst nennen es Stadtratssitzung.
Niemand weiß, wie der Fluch zu brechen ist. Verlassen die Akteure das Rathaus, stellen sich die Fähigkeiten zum normalen menschlichen Zusammenleben langsam wieder ein. Aber wenn sie dann wieder hineingehen….
Wahrscheinlich werden sich die armen Marlittshäuser damit abfinden müssen, dass ihre Obrigkeit nichts auf die Reihe kriegt. Nicht mal einen Plan für die Verteilung der Dukaten, die sie brav ins Stadtsäckel hineinschütten. Es ist schließlich ein böser Fluch im Spiel, keiner der Beteigten kann wirklich etwas dafür.
Aber das ist natürlich nur ein Märchen.
PS. Übrigens war der Fluch vor 5 Jahren auch schon zu spüren, wie man hier nachlesen kann. Zwar haben die Akteure gewechselt, aber es hat nix genützt.
Ein Gedanke zu „Der Fluch“