Natürlich wissen nicht nur die älteren Arnstädter, wer Friedrich Behr war. Bis 1958 leitete der Pfarrer das Marienstift und sorgte auch in Zeiten, da die Kirche in der Gesellschaft in eine unbedeutende Nebenrolle gedrängt werden sollte, unter schwierigen Bedingungen für einen Fortbestand und die Mehrung des guten Rufes der Einrichtung. Grund genug, seines 110. Geburtstages zu gedenken. Aber, wie es Friedrich Behr wohl auch selbst gehalten hätte, nicht mit einer Jubelfeier, sondern mit Nachdenken über Lehren aus der Vergangenheit und mögliche Fährnisse von Gegenwart und Zukunft.
Am Anfang stand der Blick in die Vergangenheit. Denn Behr stand nicht erst in der DDR, sondern schon seit 1930 der 1904 gegründeten Heil-, Pflege- und Erziehungsanstalt für bildungsfähige Krüppel vor, war also direkt mit dem Euthanasieprogramm der Nazis konfrontiert, das auch die Schützlinge seiner Einrichtungen bedrohte. Die aus Berlin stammende und in Karlsruhe als Privatdozentin arbeitende Historikerin Anke Silomon hatte extra für diese Veranstaltung ein kleines Forschungsprojekt übernommen, um das Wirken Friedrich Behrs in dieser Zeit zu untersuchen. Sie berichtete von Auseinandersetzungen Behrs mit dem NS-Rassenforscher und späteren Jenaer Universitätsrektor Karl Astel, von mutigen Äußerungen und drohender Verhaftung, aber auch von aus heutiger Sicht diskussionswürdigen Haltungen Behrs, der zwar die Euthanasie völlig ablehnte, aber die Sterilisation Behinderter nicht. Insgesamt zeichnete die Historikerin ein lebendiges Bild eines nicht widerspruchsfreien, aber sehr mutigen Mannes, dem es mit Unterstützung seiner Mitarbeiter gelang, alle etwa 100 behinderten Kinder und Jugendlichen im Marienstift vor dem Zugriff der Nazis zu retten.
Die sich an ihren Vortrag anschließende Prominentenrunde war als Podiumsdiskussion angekündigt worden, Debatten gab es aber kaum. Denn der evangelische Landesbischof Christoph Kähler, Thüringens Ex-Justizminister Harald Schliemann und der Arzt und Medizinethiker Gerd Richter von der Universitätsklinik Marburg waren sich über die Notwendigkeit des Schutzes gefährdeten Lebens ebenso einig wie in der Ablehnung aktiver Sterbehilfe. Allerdings müsse in den medizinischen Einrichtungen ein Umdenken einsetzen, wie und wann der Übergang vom Heilauftrag zur Sterbebegleitung gestaltet werden muss, sagte Richter. Wichtiger als medizinisches Wissen sei oft die Fähigkeit, mit dem Patienten zu reden.
Auch Kähler warnte davor, sich bei dem schwierigen Thema Sterbebegleitung mit knackigen Antworten zufriedenzugeben, während Schliemann einen Grund für die Debatte im Selbstmitleid der Überlebenden sah. Darin war er sich mit den beiden anderen Podiumsteilnehmern einig. Wir tun uns schwer mit dem Tod, sagte Kähler, wir wollen ihn nicht erleben müssen.
Es war keine kontroverse, aber eine tiefgehende Debatte, die manche schnelle Schlagzeile der vergangenen Tage in Frage stellte. Sie zeigte: Die Frage, was schützenswertes Leben ist und wie man mit ihm umgehen soll, ist auch 50 Jahre nach dem Tod Friedrich Behrs nicht leicht zu beantworten, die Auseinandersetzung mit Tod und Leben ist nicht widerspruchsfrei und erfordert Mut. Dieses Ergebnis hätte wohl auch Friedrich Behr gefallen.
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