Gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in die ČSSR gab es 1968 im heutigen Ilmkreis nur vereinzelte Proteste – und eine eigenartige Aktion in Arnstadt. Dort wurde zwar „Dubček, Dubček“ gerufen, aber so richtig politisch war die ganze Sache wohl nicht.
In Zusammenhang mit dem „Prager Frühling“ 1968 hört man in Arnstadt immer wieder folgende Geschichte: Vor dem Jugendklubhaus hätten sich am frühen Abend des 15. September 1968 etwa 150 Jugendliche versammelt. Sie sollen sich auf die Straße gesetzt haben, es waren „Dubček, Dubček“-Rufe zu hören und „Wir wollen Gerechtigkeit“. Die herbeigerufene Polizei schaffte es über längere Zeit nicht, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Einige Jugendliche hätten sogar versucht, ein Polizeiauto umzukippen.
Soweit die Geschichte. Aber was ist daran wahr? In der örtlichen Presse stand damals nichts, was nicht sonderlich verwundert. Aber auch im 2008 erschienenen Buch „Thüringen im Frühling 1968“ von Andrea Herz findet sich nur ein kurzer Hinweis: Fünf Arnstädter Jugendliche hätten am 15. September 1968 „in der offenen Form eines Straßenprotestes“ gegen den Truppeneinmarsch in die ČSSR demonstriert.
Andrea Herz hat allerdings in den Archiven noch mehr Protestaktionen im heutigen Ilmkreis gefunden. So hatte ein Ilmenauer im Freibad einen Aufruf an eine Tafel geschrieben, der zu einer Demonstration am 25. und 26. August auf dem Markt aufforderte. Der Aufruf wurde aber schnell von Sicherheitskräften bemerkt und entfernt, so dass Polizei und Stasi an den beiden Tagen einen leeren Markt beobachteten. Ebenfalls in Ilmenau tauchten am 29. August Flugblätter auf, in denen „Freiheit für die ČSSR“ und „Erhebt Eure Stimme gegen die Okkupanten“ gefordert wurde. In Martinroda wurde von der Stasi ein Flugblatt sichergestellt, auf dem stand: „Freiheit für die ČSSR, Russen raus, gebt Dubček frei“. Ein ähnliches Flugblatt gab es auch in Geraberg, mit dem Zusatz: „Es lebe der Friede“. „Raus aus der ČSSR“ stand auf einem Flugblatt, das schon am 22. August, am Tag nach dem Einmarsch, in Arnstadt gefunden wurde. Auch aus Plaue wird ein Flugblattfund am 26. August vermeldet, der Text ist aber nicht bekannt.
Wahrscheinlich gab es noch mehr derartige Flugblätter. Dokumentiert sind nur die Fälle, wo Polizei, Stasi oder linientreue Genossen solche Schriften bemerkten und ablieferten. Massenaktionen oder Demonstrationen gab es im heutigen Ilmkreis aber nicht.
Doch was ist nun am 15. September 1968 vor dem Arnstädter Jugendklubhaus wirklich passiert?
Antwort darauf gibt ein Bericht, der sich in den Akten der Stasi-Unterlagenbehörde befindet. Danach hat sich die Sache tatsächlich so ereignet, wie obiger Geschichte beschrieben: Etwa 150 Jugendliche lieferten sich eine Auseinandersetzung mit der Polizei – und es gab Dubček-Rufe. Anlass war eine Schlägerei zwischen zwei kongolesischen Jugendlichen und mehreren Arnstädtern, die sich nach einem „Tanztee“ mit den „Tropics“ zunächst im Saal des Jugendklubhauses entwickelt und anschließend vor dem Haus fortgesetzt hatte. Als die Polizei anrückte und die beiden jungen Kongolesen, die als Praktikanten im Arnstädter Fernmeldewerk arbeiteten, in Sicherheit brachte, richtete sich der Zorn der zum Teil angetrunkenen Jugendlichen gegen die Ordnungshüter. Es wurden immer mehr, es kam zu „tumultartigen Szenen gegen die VP“, heißt es im Bericht. Von einem umgeworfenen Polizeiauto steht dort zwar nichts, aber mehrere Augenzeugen wollen gesehen haben, wie ein „Moskwitsch“ der Volkspolizei auf der Seite lag und später abtransportiert wurde. Laut Bericht setzten sich die Jugendlichen „auf die Straße, wodurch eine Verkehrsstockung eintrat“.
Aber wie kam es zu den Dubček-Rufen?
Politisch wurde es durch den Staatszirkus Prag. Der hatte gerade ein Gastspiel in Ilmenau absolviert und sollte ab dem nächsten Tag in Arnstadt auftreten. Da es die Entlastungsstraße zur Lindenallee damals noch nicht gab, mussten die Zirkuswagen am Jugendklubhaus vorbei und gerieten so in die „Sitzblockade“ der Jugendlichen. „Von einigen Jugendlichen wurden die Zirkuswagen geöffnet und die Insassen aufgefordert, sich ebenfalls auf die Straße zu setzen“, heißt es im Stasi-Bericht. „Im Verlaufe dieser Handlungen“ sei es durch einzelne Jugendliche „zu hetzerischen Äußerungen in Zusammenhang mit den Ereignissen in der ČSSR“ gekommen.
Dass es sich dabei allerdings nicht um eine ernsthafte politische Demonstration gehandelt haben kann, wird aus einem Vernehmungsprotokoll der Polizei deutlich. Ein Jugendlicher hatte nämlich gerufen: „Dubček, das Schwein muss man erschießen“. Als er in der Vernehmung danach gefragt wurde, begründete er seine Haltung so: Er hasse Dubček, weil der Kommunist sei, die Grenzen nach Westdeutschland geschlossen und die Streitkräfte der Sowjetunion und der DDR ins Land geholt habe. Falls die Aufzeichnungen über die Vernehmung wirklich stimmen, muss da einer etwas ziemlich durcheinander gebracht haben.
Die Auseinandersetzung mit der Polizei hatte für einige Jugendliche schlimme Folgen. Insgesamt 20 wurden festgenommen, gegen acht von ihnen gab es Strafverfahren. Sie waren zwischen 18 und 22 Jahre alt und zum Teil vorbestraft. Als einer der vermeintlichen „Rädelsführer“ wurde ein damals 21-jähriger Chemieanlagenbauer wegen Rowdytum, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Störung der öffentlichen Sicherheit und „Verleumdung der Hilfsmaßnahmen der sozialistischen Staaten“ zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt, vier andere erhielten Haftstrafen zwischen 20 und 48 Monaten.
Der Staatszirkus Prag hat übrigens sein Arnstädter Gastspiel wie geplant absolviert. Vom 16. bis 18. August 1968 stand sein großes Zelt auf dem Wollmarkt. Einer der Höhepunkte war die Vorführung von dressierten Berber-Löwen. Es waren eben andere Zeiten.