Inge

Als sie geboren wurde, veränderte sich gerade die Welt. Der Kaiser hatte abgedankt und in Weimar wurde an einer deutschen Republik gebastelt. Ein furchtbarer Krieg war vorbei, in dem fast zehn Millionen Menschen ums Leben kamen. Er führte aber auch Menschen zusammen, die sich sonst nie getroffen hätten.

Charlotte Ingeborg Ursula Jahn wurde nicht wie üblich in der Gösselborner Kirche getauft, sondern in der Wohnung ihrer Mutter Rosa. Der Name des Vaters blieb im Kirchenausweis offen. Und später auch.

In der Familie wurde nie über Dimitri Semjonow gesprochen, der 1914 aus einem kleinen russischen Dorf bei Pensa für den Zaren in den Krieg gezogen war und in einem Kriegsgefangenenlager  im Thüringischen Ohrdruf landete. Als Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof in Gösselborn lernte der damals dreißigjährige Dimitri  die zwei Jahre jüngere Rosa Jahn kennen. Ob es Liebe war und was aus Dimitri wurde, lässt sich heute nicht mehr ergründen. Aber am 17. Mai 1919 kam Inge  zur Welt.

Sicher haben die Leute geredet. Aber trotzdem wuchs Inge in behüteten Verhältnissen auf. Im Hause ihrer Großeltern, mit ihrer Mutter Rosa und deren Schwester Anna. Beide Frauen heirateten nie und blieben ihr Leben lang an Inges Seite. Großvater Helmut war Lehrer und Kantor in Gösselborn, er soll ein sehr gebildeter und toleranter Mensch gewesen sein, der kluge Gespräche liebte und seine Bienen. Als Inge zehn Jahre alt war, kaufte er für die ganze Familie ein schönes großes Fachwerkhaus in Arnstadt unterhalb des Fürstenbergs. Im Vergleich mit Gösselborn war Arnstadt eine große Stadt. Hier war es nicht ungewöhnlich, dass Kinder ohne Vater aufwuchsen. Dafür hatte der Krieg gesorgt.

Das Mädchen ging in Arnstadt auf das Lyzeum in der Lindenallee und schloss schnell Freundschaft mit ihrer Klassenkameradin Irmgard, der Tochter des Bäckermeisters Künzel an der Weiße. Die Freundschaft sollte ein Leben lang halten. Beide Mädchen lachten gern, waren lebenshungrig und manchmal auch ein bisschen verrückt. Verbürgt ist, dass sie einmal mit dem Auto von Vater Künzel  unterwegs waren und dabei im Straßengraben landeten. Der alte Künzel soll nie davon erfahren haben, offenbar haben ein paar Kavaliere dabei geholfen, das Auto wieder flott zu machen.

Inges Konfirmation

In dem Jahr, als Inge konfirmiert wurde, kam Adolf Hitler an die Macht. Als zwei Jahre später anlässlich eines Jubiläums der Arnstädter Mädchenschule ehemalige Schülerinnen und Schüler zur Festveranstaltung eingeladen werden sollten, verteilte Inge die Einladungen auch in einigen Häusern auf dem Ried. In der Schule wies man sie deswegen zurecht: Natürlich seien Juden nicht erwünscht.

Inge und Irmgard

Nach der Schule lernte sie Schreibmaschine und Stenografie – und besuchte mehrere Nähkurse in Arnstadt und Erfurt. Was man noch über Hauswirtschaft wissen musste, lernte sie bei einem mehrmonatigen Aufenthalt in Königsberg. Es war ihrer erste große Reise, die sie allein machte. Sie war beeindruckt von dieser großen, weltläufigen Stadt und von der Kurischen Nehrung. In Königsberg war sie auch zum ersten Mal richtig betrunken  – und schwor sich, dass das nie wieder vorkommen sollte. Sie hat tatsächlich bis zum Lebensende auch bei Festlichkeiten immer nur sehr wenig Alkohol getrunken. Im Jahr nach ihrem Königsberg-Aufenthalt begann der Zweite Weltkrieg.

Hochzeit 1942

Ihre erste Anstellung bekam Inge im Arnstädter Rathaus in der Stadthauptkasse. In dieser Zeit lernte sie auch den Tischler Franz kennen, den Sohn eines Korbmachers aus der Zimmerstraße. Es war auf einem Tanzvergnügen, das sie mit ihrer Freundin Irmgard besuchte. Dort waren auch Franz und sein Freund Erich Zeuner, der in der Bäckerei Berger (heute Parfümerie Gügel) das Bäckerhandwerk erlernte. Inge verliebte sich in Franz, Irmgard in Erich. Beide Beziehungen hielten bis zum Lebensende. Inge und Franz heirateten 1942, mitten im Krieg.

Im Büro in der Chema

Franz kam erst 1947 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück, dann wurden im Abstand von drei Jahren zwei Söhne geboren. Inge war noch immer in der Stadthauptkasse angestellt, aber sie suchte berufliche Veränderung. Die fand sie als Hauptbuchhalterin in der Chema (Chemieanlagenbau Rudisleben), einem Großbetrieb . Und so lief sie jeden Tag vom Fürstenberg bis zum Bahnhof Arnstadt-Ost und fuhr mit der „Bimmel“ nach Rudisleben. Die gleiche Tour machte sie am Nachmittag zurück.

Überhaupt war Inge sehr gut zu Fuß – und vor allem schnell. Wenn man mit ihr irgendwo hin ging, gab sie immer das Tempo vor. Wandern gehörte bis ins hohe Alter zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Allerdings nicht zum Selbstzweck, sondern oft verbunden mit nützlichen Dingen wie Pilze- oder Holzsammeln. Abends erledigte sie nebenbei noch die Buchhaltung für das Chema-Kulturhaus in der Lindenallee. Müßiggang war nicht ihre Sache.

Urlaub machte die Familie häufig auf einem großen Gartengrundstück in Rudolstadt, das Verwandten gehörte. Aber es gab auch Reisen nach Klosterlausnitz, Heringsdorf  oder Waltersdorf im Zittauer Gebirge. Alles mit der Deutschen Reichsbahn, ein Auto hat die Familie nie besessen. Die weiteste Reise führte sie mit ihrem Franz nach Sotschi am Schwarzen Meer, da waren die Söhne schon aus dem Haus.

Die beiden hatten sich für ihr Rentendasein viel vorgenommen, aber sie konnten diese gemeinsame freie Zeit nur wenige Jahre genießen: 1982 starb Franz völlig überraschend kurz vor seinem 70. Geburtstag.

Inge war nun mit sich und dem großen Haus unterhalb des Fürstenbergs allein. Es wohnten zwar noch Mieter darin, aber sie musste sich um alles kümmern. Auch das machte sie klaglos, wie es so ihre Art war.

Inge mit Enkel Paul

Nach der Wende kam wieder mehr Leben ins Haus. Einer der Söhne zog mit der Familie ein, Inge verwöhnte die Enkel mit Nudelauflauf und selbst gebackenem Kuchen und spielte mit ihnen im Hof Fußball. Da war sie schon über 70. Und sie nutzte die neue Freiheit  weidlich aus, bereiste mit dem Bus halb Europa. Ihre Reiseerinnerungen füllen einen dicken Leitz-Ordner.

2014 gab es dann einen Oberschenkelhals-Bruch. Sie konnte nicht mehr bleiben in dem schönen Haus, das keinen Fahrstuhl, aber 20 Stufen bis zum Erdgeschoss zu überwinden hatte.

In der Wohnanlage „Daheim“ im Lohmühlenweg wurde sie  freundlich aufgenommen und gut betreut. Sie hatte dort eine kleine Wohnung mit Blick auf die Gera und so viel Pflege, wie gerade nötig war. Aber es war nicht die Atmosphäre eines Pflegeheims.

Langsam gingen ihre Gedanken eigene Wege, aber ihr Gemüt blieb auch dabei freundlich und mild. Manchmal sei sie „putzig“, sagten die Betreuer, wenn sie gerade wieder in ihrer eigenen Welt im Geiste spazieren ging. Was sie nie vergaß, waren Gedichte und Lieder, die sie manchmal vor sich hin sang. Auch auf Französisch, die Sprache hatte sie schon in der Schule geliebt.

Bis zuletzt konnte sie in ihrer kleinen Wohnung mit Blick auf die Gera bleiben. Im Dezember 2018 ist Inge dort friedlich eingeschlafen, im stolzen Alter von 99 Jahren. Eine freundliche und milde Frau, aus deren Mund nie ein böses Wort zu hören war, obwohl sie nicht nur gute Zeiten erlebt hat. Sie war ein wunderbarer Mensch.

Und sie war meine Mutter.

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