Man könnte diesen Mann einen Penner nennen. Vieles, was er tut, passt in ein solches Raster. Doch Roland Pferner ist auch eine Art ökologischer Sozialarbeiter. Er hat den Wollmarktsteich in Arnstadt zu seinem Lebensmittelpunkt erkoren. Und er sagt, dass er glücklich dabei ist. Es gibt viele Gründe, ihm zu glauben.
„Das Laub macht doch sonst keiner weg“, sagt Roland Pferner und stochert am Ablauf des Wollmarktsteiches das Gitter frei. Und einen Besucher weist er darauf hin, dass er seine Kippe nicht einfach auf den Boden werfen soll. „Ich hab grad sauber gemacht“, schimpft Pferner so, als stände er in seinem Wohnzimmer.
Irgendwie ist das auch so. Der Mittfünfziger sorgt nicht nur für Ordnung am Teich, er richtet ihn auch ein. Winterharten Bambus hat er gepflanzt, viele der Fische selbst ausgesetzt. Darunter sind sogar teure Koi-Karpfen, die er selbst gekauft habe, sagt er stolz.
Roland Pferner hat den Wollmarktsteich zu seinem Lebensmittelpunkt erkoren. Er lebt dort, zumindest tagsüber. Aber es gab auch Zeiten, da hat er richtig dort gewohnt.
Unter der Bahnbrücke war sein Wohn- und Schlafzimmer, mit Bett, Tisch und immer auch einem Vorrat an Alkohol. So, wie man es von französischen Clochards kennt. Nur gebettelt hat er nicht. Das wäre wohl unter seiner Würde.
Es war eine eigenartige Wohnstätte, so direkt am Fußweg, das fanden nicht nur Passanten. Die Stadtverwaltung beendete den Zustand nach Monaten durch eine „Zwangsräumung“. Der Bürgermeister sei damals persönlich mitgekommen, sagt Pferner. Er kennt alle, die in Arnstadt was zu sagen haben. Heute hat er eine kleine Wohnung unterhalb des Marktes. Aber am Wollmarksteich trifft man ihn immer noch. Fast jeden Tag.
„Teichgraf“ wird Pferner von vielen genannt. Ihm gefiele das nicht, sagt er, „Teichvogt“ sei ihm lieber. Schließlich gehört der Teich der Stadt. Er kümmert sich nur um alles. Die Bezeichnung „Graf“ verdiene nur einer seiner Söhne, der eine Adlige geheiratet haben soll.
Das ist eine von vielen Geschichten, bei denen man nicht weiß, ob man sie ihm glauben kann. Er erzählt gern Geschichten. Einer, der ihn gut kennt, meint, man müsse 100 Jahre alt werden, um so viel zu erleben, wie Roland erzählen kann. Da ist die Story mit dem Schwein, mit dem er getrampt sein will und das er in seiner Wohnung hielt und dressierte, bis es schlachtreif war. Oder von den vielen Festen, die sie gefeiert haben. Es kann alles stimmen, muss aber nicht. Wichtig ist, das er seine Zuhörer zum Schmunzeln oder Staunen bringt. Und Zuhörer hat er viele. Manche kommen aus dem Obdachlosenasyl vorbei, manche kennt er einfach von früher.
Wer mit Roland Pferner einigermaßen ernsthaft reden will, sollte morgens zum Wollmarktsteich gehen. Dann, wenn der Beutel mit den Bierflaschen noch voll ist. Denn Alkohol ist eine seiner vielen Schwächen. Er hat auch noch andere, zum Beispiel die Neigung, gegen Gesetze zu verstoßen. Die Ordnungshüter können davon ein Lied singen, das Amtsgericht auch. Ruhestörung und Erregung öffentlichen Ärgernisses sind dabei, aber auch wegen Cannabis-Zucht musste er sich schon verantworten und unerlaubtem Waffenbesitz. Das sei doch nur ein größeres Messer gewesen, sagt er, „aber ich habe nie im Knast gesessen“. Wenn man nachbohrt, korrigiert er sich: „Jedenfalls nie lange“.
Der „Teichgraf“ lebt am Rande der Gesellschaft. Und er hat dieses Leben selbst gewählt.
Früher war er Elektriker, sogar Meister, wie er stolz beteuert. Schweißen konnte er und diverse große Maschinen bedienen. Selbst Mathematik habe ihm nie Schwierigkeiten bereitet, das sagt er jedenfalls. Er war oft unterwegs, meist irgendwo auf Montage, in Schwedt, Leuna oder bei Zeiss in Jena. Dort, wo das Geld stimmte und die Abende gesellig waren. „Wir haben schon immer gesoffen.“
Auch über die Wende ist er gut gekommen. Als Gleisbauspezialist bewarb er sich bei einer Firma in Würzburg und wurde sofort eingestellt. Finanziell stand er sich sogar wesentlich besser als vorher, bekam fast 30 D-Mark Stundenlohn. Sie hätten den Frauen am Abend manchmal einen 50-Mark-Schein zugesteckt, sagt Pferner. Wofür auch immer.
1995 kam dann seine persönliche Wende, er erhielt die Kündigung. „Eine Intrige“, sagt er und dass sie ihn danach direkt zu seinem 40. Geburtstag auf Knien gebeten hätten, wieder zurückzukommen. Doch er habe abgelehnt. „Ich hatte beschlossen, mein Leben zu ändern, zurück zu den Wurzeln.“
Er besann sich auf seine Kindheit auf einem Bauernhof in Apfelstädt, das Leben im Einklang mit Tieren und Pflanzen. „Von der Oma wusste ich, was Schafgarbe ist und Spitzwegerich. Und vieles habe ich mir angelesen.“
Seitdem ist der Wollmarktsteich sein Bauernhof. Er kümmert sich um die Pflanzen, Tiere und sogar den Wasserzu- und Ablauf. Wenn man ihn bittet, holt er auch schon mal einen prächtigen Burschen mit einer kleinen Bindfaden-Angel aus dem Teich heraus. Von den blauen Schwertlilien am Rande weiß er, dass sie aus Russland stammen und zeigt, wo die kräftigste Pfefferminze wächst.
Wenn ihm danach ist, geht er zur Stadt- oder Kreisverwaltung, und verlangt, dass „endlich etwas mehr passiert“ an seinem Teich. Erst kürzlich war er bei Landrat Benno Kaufhold wegen der Mauer hinter dem Teich, die schon halb eingefallen ist. „Kein einfacher Mensch“, sagt Kaufhold, „aber in der Sache hat er ja recht“.
Dort, wo die Mauer eingefallen ist, habe er schon mal in einem Zelt gewohnt und sich selbst mit Farbe die Hausnummer 8 an die Mauer geschrieben. Eines Tages sei sogar dort Post für ihn angekommen, von einem Ehepaar vom Chiemsee, das sich für die sachkundige Erklärung von Flora und Fauna am Wollmarktsteich bei ihm bedankt habe.
Es gibt viele solche Geschichten, die der Deichgraf erzählen kann. Von einem ausgedehnten Ausflug nach Spanien und einem Trip nach Amerika, wo er einen Indianerhäuptling getroffen haben will. Wenn man Zweifel anmeldet, zeigt er ein handsigniertes Plakat mit dem Bild des Häuptlings, das er aus einer der vielen Schubladen seiner kleinen Wohnung wühlt. Die Wohnung macht einen sauberen Eindruck, trotz der vielen Vögel im Käfig über dem Wohnzimmertisch, dem Hund, der nach Wurst bettelt und den Katzen, die gelegentlich vorbei schauen. Und vieler Flaschen.
Wenn er betrunken am Wollmarktsteich herumgestikuliert, kann man ihn für den klassischen Penner halten. Und es gibt Menschen, die Angst davor haben, vorbeizugehen, wenn er mit seinen Freunden dort steht. Denn manchmal geht es ziemlich laut dort zu.
Roland Pferner sieht das ganz anders. Er würde nie jemandem etwas tun, der ihm nichts tun würde, sagt er. Darüber, dass er von Jugendlichen schon einmal böse zusammengeschlagen wurde, so dass er ins Krankenhaus musste, verliert er kein Wort. Das erfährt man nur von anderen.
Ein Lebenskünstler sei er nicht, sagt der Teichgraf. „Ich bin ein Überlebenskünstler.“ Geld sei ihm nicht mehr wichtig, er bekäme ja eine Rente. Wie das geht mit 55, sagt er nicht. Es soll was mit der Eisenbahn zu tun haben.
Roland Pferner ist ein durchtriebener Hund, beschreiben ihn seine Saufkumpane, aber ein ehrlicher. Wenn er nüchtern ist, kommt sogar manchmal etwas Altersweisheit durch. „Ich bin glücklich mit meinem Leben“, sagt er dann, „das können nicht viele von sich behaupten“.
Vorm Altwerden hat er keine Angst. Der Blutdruck ist manchmal etwas niedrig, aber das kann auch am Wetter liegen. Und wenn es dann mal so weit ist, dann habe er einen Organspendeausweis und eine Vollmacht, dass im Falle der Fälle keine lebensverlängernden Maßnahmen angewendet werden sollen, sagt Pferner. „Meine Organe sollen noch zu etwas nützlich sein, wenn ich mal nicht mehr bin.“ Alles an ihm sei „gut in Schuss, das können viele Frauen bestätigen“.
Nur bei seiner Leber ist der Deichgraf dann doch nicht ganz so sicher.
Update: Im Oktober 2013 ist Roland Pferner gestorben.
In der ersten Fassung des Beitrags nannte ich ihn „Deichgraf“, so nannten ihn viele. Mittlerweile denke ich, das war nur dem Arnstädter Dialekt geschuldet. Schlich wohnte Roland an einem Teich.
Ein Gedanke zu „Der Teichgraf“