Arnstadt ist im Vergleich zu anderen Städten bisher recht gut durch die großen Krisen dieser Zeit gekommen – auch wenn das montags manche Menschen anders sehen. 2022 war sogar ein ziemlich erfolgreiches Jahr, obwohl es mit der Landesgartenschau nicht geklappt hat.
Selten wurde so viel gebaut in der Stadt. In nahezu jeder Innenstadt-Lücke, wie oben an der Ecke Alte Feldstraße / Lessingstraße, entstehen neue Wohnhäuser. Alle drei historischen Brauereien haben wieder eine Perspektive und auch die Sanierung der Plattenbau-Substanz geht zügig voran. Auf dem Kübel- und dem Fürstenberg tut sich einiges – und auf dem lange vor sich hin dämmernden Baufeld in der Karl-Liebknecht- Straße ebenfalls. Das schöne Gebäude am Schlossplatz ist nun wieder eine frisch sanierte Schule (bis auf die Turnhalle), die alte Kollwitz-Schule in der Lindenallee wird wieder hergerichtet. Die Arnsbergstraße wurde trotz allgemeiner Probleme in der Baubranche sehr zügig grundsaniert und ist jetzt wieder befahrbar. Zwei neue Kindereinrichtungen entstehen und die Kur für den Theaterplatz ist in der Endphase. Ob die Arnstädter Gefallen an der voll versiegelten Fläche mit dem runden Brunnen daneben finden, wird sich zeigen.
Aber nicht nur in der Innenstadt wird gebaut. Entgegen der prophezeiten allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung wächst der umweltfreundliche Verpackungshersteller Papacks an der Bachschleife und einige Firmen am Erfurter Kreuz erweitern ihre Produktionskapazitäten, darunter auch der Triebwerksspezialist N3, bei dem man wegen des eingebrochenen Flugverkehrs in Corona-Zeiten anderes hätte befürchten müssen. Und es ist ein neuer Konzern endgültig am Erfurter Kreuz angekommen. Gerade hat CATL die ersten Batterien aus am Ort hergestellten Zellen in seinem neuen Superwerk produziert.
CATL ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall. Es ist der erste Betrieb, der am Erfurter Kreuz seine Europazentrale eingerichtet hat. Es ist der erste Betrieb, gegen den sich Bürgerprotest geregt hat. Und es ist der erste Betrieb, dessen ausländische Beschäftigte im Stadtbild nicht zu übersehen sind. Zwar gab es auch schon vorher spanische, niederländische oder wie bei „Masdar“ arabische Investitionen am Erfurter Kreuz, aber in Arnstadt hat man davon kaum etwas bemerkt. Doch die Mehrzahl der gegenwärtig etwa 650 Mitarbeiter des CATL-Werks sind – zumindest in der Anlaufphase – Chinesen. Sie kaufen in Arnstadt ein, mieten Wohnungen, betreiben schon zwei Gaststätten und einen Laden mit chinesischen Waren in der Innenstadt. Und das alles lächelnd. Darüber kann man sich höchstens hinter vorgehaltener Hand aufregen. Denn die Chinesen nehmen auch niemanden hier die Arbeit weg, im Gegenteil. Nicht nur CATL sucht händeringend Mitarbeiter.
Ein Reibungspunkt zwischen der Stadt und CATL hat sich zunächst von allein erledigt: Der Bau des neuen Güterbahnhofs am Rehestädter Weg liegt offenbar auf Eis. Das Projekt, das eine hohe Belastung für die Anwohner mit sich gebracht hätte, wird wohl nicht realisiert, weil CATL seine Ausbauziele für das hiesige Werk stark reduziert hat und die Bahn unter diesen Bedingungen den Güterbahnhof nicht bauen will. Was für die Öko-Bilanz von CATL und den Verkehr von der Autobahn zum Werk eine schlechte Nachricht ist, dürfte die Anwohner des Rehestädter Wegs freuen.
Das Verhältnis zwischen CATL und Arnstadt ist noch keine Liebesbeziehung geworden, dazu müsste sich das Werk in der Kommunikation wohl noch entscheidend öffnen. Aber die Steuern, die von dort auch in die Stadtkasse fließen, sind willkommen.
Die Stadtkasse ist zwar nicht prall gefüllt, aber es reicht, um die Pflichtaufgaben zu erledigen und auch neue Projekte anzugehen. Vergleicht man die jetzige finanzielle Lage mit der vor sieben Jahren, glaubt man, in einer anderen Stadt zu sein. Auch wenn es manche nicht hören wollen: Arnstadt hat in den letzten Jahren eine sehr positive Entwicklung genommen. Mit den Plänen zur Durchführung der Landesgartenschau 2028 gab es sogar so etwas wie Leitlinien für die künftige Entwicklung der Stadt. Dass die Stadt am Ende ziemlich klar gegenüber anderen Bewerbern den Kürzeren zog, ist zwar nicht schön, aber die Leitlinien bleiben. Es gibt wieder Visionen für die Stadt, die man lange Zeit vermisst hat.
Trotzdem ziehen jeden Montagabend Unzufriedene durch die Stadt. Sie sind laut und leuchten in die Fenster derjenigen, die nicht mit ihnen gehen. Es ist eine diffuse Unzufriedenheit, die sie zusammenhält. Manchen sind einfach nur für den Frieden oder gegen den Euro, andere gegen zu viele Ausländer oder die Maskenpflicht, manche gegen die Rechtschreibreform oder das Gendern in der Sprache. Viel Verbitterung ist zu spüren, aber auch Wut. Wer wütend ist, mit dem ist schwer zu reden. Aber es gibt eine große Gruppe von Leuten, die einfach nur Zukunftsangst haben, weil sich für sie die Zeiten zu schnell ändern. Mit ihnen sollte man unbedingt im Gespräch bleiben.
Denn dass sich die Zeiten viel schneller ändern, als den Menschen lieb ist, kennt die Arnstädter Geschichte zur Genüge, nicht nur durch Kriege, auch durch das Klima und die wirtschaftliche Entwicklung. So war Arnstadt im Mittelalter eine weithin bekannte Weinstadt, auf allen Hängen rund um die Stadt standen Weinstöcke. Bis zu 20 000 Fässer Wein wurden jährlich abgefüllt. Doch durch eine Klimaveränderung um die Zeit des 30-jährigen Krieges kam es wiederholt zu Missernten, innerhalb weniger Jahrzehnte verschwand der Weinbau völlig aus der Stadt. Alle, die davon gelebt hatten, mussten sich einen neuen Broterwerb suchen.
Oder das Handwerk: Im Arnstädter Adressbuch von 1864 sind über 80 Schuster in der Stadt verzeichnet. Im Zuge der Industrialisierung verschwanden immer mehr von ihnen, weil maschinell gefertigte Schuhe billiger wurden. Heute findet man keinen einzigen mehr in der Stadt. Ähnlich war es vorher schon bei den Töpfern gewesen, die die berühmten Arnstädter Fayencen hergestellt hatten. Die großen Manufakturen machten sie arbeitslos.
Veränderungen und Krisen sind also keinesfalls eine Besonderheit dieser Zeit, auch wenn wir es gegenwärtig gleich mit mehreren großen Krisen zu tun haben, die in Arnstadt ihre Spuren hinterlassen. Es sind zumeist leise Spuren, man findet sie zum Beispiel, wenn man an den Öffnungstagen der Tafel durch die Neue Gasse geht. Die Menschen versuchen, so gut wie möglich ihr Geld zusammenzuhalten. Das spüren vor allem die Einzelhändler in der Innenstadt, den meisten von ihnen ging es schon vor den Krisen nicht besonders gut. Sie wehren sich tapfer, mit Ideen, Aktionen, für Rabatte fehlt oft der finanzielle Spielraum. Es gibt auch Schließungen, gerade hat es zwei alteingesessene Apotheken auf dem Markt und in Krankenhaus-Nähe getroffen. Beide gaben offenbar nicht aus wirtschaftlichen Gründen auf, sondern weil sie keine Nachfolger fanden. Aber es ist nicht auszuschließen, dass weitere Händler aufhören, weil sie einfach keine Kraft mehr haben.
Trotzdem hat die Verödung der Innenstadt, die so viele Kleinstädte derzeit heimsucht, in Arnstadt noch kein gravierendes Ausmaß angenommen. Es gibt sogar immer wieder Versuche, einen neuen Laden aufzumachen – und wenn es nur ein Bubble-Tea-Geschäft ist. Dass es sich lohnt, mit einer guten neuen Geschäftsidee in die Arnstädter Innenstadt zu kommen, zeigt der „Grüne Günther„.
In der Arnstädter Stadtpolitik ging es auch in diesem Jahr wieder verhältnismäßig ruhig zu. Das kann man als gutes Zeichen werten, schließlich blieben fruchtlose ideologische Streitereien im Stadtrat (anders als im Kreistag) weitgehend aus und es wurde stattdessen oft konstruktiv diskutiert. Aber manchmal könnte es rund um das Rathaus durchaus etwas weniger ruhig sein. Man wird das Gefühl nicht los, ein Teil der Stadtverwaltung sei aus dem Corona-Winterschlaf noch nicht wieder so richtig erwacht. Aber man muss auch sagen, dass sich die Verwaltungsarbeit durchaus stabilisiert hat. Die Probleme in der Abteilung Pass- und Meldewesen, die seit 2020 aufgetreten sind, haben sich weitgehend erledigt. Die Wartezeiten auf einen Termin sind moderat, das kann jeder im Online-Kalender der Stadt selbst überprüfen.
Das kulturelle Leben hat sich nach den langen Corona-Schließzeiten normalisiert. Es gab wieder ein Stadtfest und einen Bachadvent, es finden wieder Karneval und Konzerte statt. Kantor Jörg Reddin hat seine Veranstaltungsangebote weiter ausgebaut, so viel wie in diesem Jahr war in den Arnstädter Kirchen lange nicht mehr los.
Leider musste das Neideck-Gelände wegen gravierender baulicher Probleme am Turm geschlossen werden, ein herber Schlag nicht nur für den Neideck-Verein. Und noch immer ist nicht klar, wie sich die zunehmende Kluft zwischen Turm und Treppenhaus wieder schließen lässt. Was Arnstadt am Neideck-Gelände hat, wird eben erst klar, wenn es fehlt.
So ziemlich außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung hat sich in diesem Jahr eine Trennung vollzogen, die lange undenkbar schien: Die Arnstädter Kunsthalle und ihr langjähriger Chef Dorsten Klauke gehen getrennte Wege. Die Trennung verlief keinesfalls einvernehmlich, die Initiative ging wohl von der Kunsthalle und den dahinter stehenden Geldgebern aus, wie man aus Reaktionen Klaukes auf Facebook schließen kann. Nun also leitet Sybille Suchy die Kunsthalle und Dorsten Klauke betreibt ein eigenes Atelier in der Nachbarschaft. Man wird sehen, wie sich diese einschneidende Veränderung auf die Arnstädter Kulturszene auswirkt.
Entgegen aller Trends hat sich in Arnstadt nicht erst in diesem Jahr ein neuer kleiner Verlag etabliert: Der THK-Verlag des ehemaligen linken Landtagsabgeordneten Frank Kuschel. Ursprünglich nur als Verlag für kommunale Fachliteratur gegründet, hat sich der Verlag auch über die Corona-Zeit hinweg zu einer echten Bereicherung des Arnstädter Kulturlebens entwickelt. Mit einem „Buch-Kombinat“ an der Weiße ist der Verlag nicht nur in Arnstadt verwurzelt, sondern verlegt auch die Werke zahlreiche Arnstädter, veranstaltet Buchtage und hat sogar einen Arnstädter Literaturpreis ins Leben gerufen. Mit dem Unternehmen von Michael Kirchschlager gibt es damit schon zwei Verlage hier, die sich tapfer und trotz Gegenwinds für das gedruckte Buch einsetzen. Arnstadt als Buchstadt – wer hätte das vor Jahren für möglich gehalten.
Arnstadt verändert sich, daran kann niemand etwas ändern. Wie stark die großen Krisen im Neuen Jahr unser Leben bestimmen werden, ist ungewiss. Aber die Chancen für eine weitere positive Entwicklung sind, wie 2022 zeigt, gar nicht so schlecht. Daran sollte man (sich) ab und zu durchaus erinnern.
Was für eine Fundgrube ist dieser Blog doch für einen ehemaligen Arnschter, der nach wie vor an den Geschehnissen seiner alten Heimatstadt interessiert ist. Und was für eine Freude, hier von so vielen guten Entwicklungen zu lesen. Vielen Dank für diesen und die anderen Beiträge, die mich die Verbindung nach Arnstadt nicht verlieren lassen. Ein gesundes neues Jahr Dir, lieber Eberhardt, Deinen Leserinnen und Lesern und allen Arnschtern. Herzliche Grüße aus Tansania
Danke, lieber Thomas. Ich wünsche Euch auch alles Gute für das Neue Jahr!
Lieber Herr Pfeiffer, gerade lese ich diesen Artikel nochmals durch, und ich finde, er gehört einer größeren Öffentlichkeit zum Lesen angeboten. Allerdings hoffe ich, viele Leser, wie auch ich, schauen, ohne schriftlichen Kommentar den Blog arnscht.
Bitte schreiben Sie weiter solch interessante Artikel!
Danke!
Das mit der größeren Öffentlichkeit ist so eine Sache. Die Tageszeitung würde solche langen Riemen gar nicht drucken. Und was anderes fällt mir auch nicht ein. Immerhin haben ihn hier über 1000 Leute gelesen – ich finde das ganz schön.