An den warmen Mantel kann sich Erika Liebetrau noch gut erinnern. Mit schwarzen Knöpfen und einer Kapuze aus einem dicken Wollstoff, weinrot mit einem Touch ins Lila. Die Mutter hatte ihn nach dem Krieg für Erikas große Schwester genäht, später trug sie ihn selbst auch. Was sie damals nicht wusste: Der Stoff stammte aus dem berühmtesten Eisenbahnwagen der Welt. Der Mantel war aus dem Fenstervorhang des Salonwagens von Compiegne gemacht.
Erika Liebetraus Vater Friedrich Kirschner, zeitlebens leidenschaftlicher Eisenbahner, wurde als Bahnhofsvorsteher in Ruhla Ende 1944 über eine Geheimsache informiert. Der Salonwagen sollte im engen Tal auf dem Sackbahnhof abgestellt werden. Bei Todesstrafe sei es verboten, den Wagen neben dem Lokschuppen zu betreten, der Tag und Nacht von zwei schwer bewaffneten Soldaten bewacht wurde.
Doch das Kriegsende nahte schon, irgendwann verschwanden die Bewacher. Zwangsarbeiterinnen sollen den Wagen auf der Suche nach Essbarem und Kleidung aufgebrochen haben, erzählt Frau Liebetrau. Da hat mein Vater gesagt: Jetzt will ich auch mal sehen, wie es da drin aussieht. Zunächst allein, später auch mit seiner Frau inspizierte er den Wagen und zeigte sich überwältigt. Der ganze Wagen ein einziger großer Raum aus Samt, Messing und Teakholz. Daneben eine kleine Küche mit Garderobe. Nur von dort trauten sie sich, etwas mitzunehmen, so die Tochter. Die Souvenirs: ein Vorhang, der später zum Kindermantel wurde, zwei Kleiderbügel und eine eiserne Wasserkanne aus der Küche mit dem Emblem des Wagens.
Der Mantel ging irgendwann kaputt. Aber die beiden Kleiderbügel und die Kanne hat Frau Liebetrau noch heute. Mein Vater nutzte die Kanne zum Gießen im Garten. Doch jetzt sollen die Erinnerungsstücke einen Ehrenplatz bekommen. Erika Liebetrau hat sie sorgsam reinigen lassen und einen Brief an das Wagen-Museum in Compiegne geschrieben. Sie möchte, dass Kanne und Bügel dort, in Thüringens Partnerregion Picardie, ausgestellt werden. Es ist doch sonst kaum noch Authentisches da.
Doch nicht nur Inventarteile des Salonwagens überlebten den Krieg. Ende März 1945 wurde er aus Ruhla abgefahren, weiß Erika Liebetrau. Dann führte der Weg des wohl berühmtesten Eisenbahnwagens der Welt, in dem am 11. November 1918 der Waffenstillstand zur Beendigung des Ersten Weltkrieges unterzeichnet wurde und den die Nazis später zur Entgegennahme der Kapitulation Frankreichs nutzten, nach Gotha.
Nach Recherchen des Gothaer Eisenbahnkenners Günter Walter stand er dort Ende Februar 1945 auf Gleis 46 unter einer überdachten Außenrampe, mit Tarnnetzen geschützt und bewacht. Mehrere Zeitzeugen berichten, dass damals noch die gesamte Innenausstattung des Salonwagens einschließlich der Schreibtische und die unter Glas ausgelegten Dokumente zu sehen und zu besichtigen waren. In der ersten Märzwoche 1945 aber war er verschwunden. Zu seiner letzten Reise nach Crawinkel. Dort wurde er abgestellt und brannte aus. Die Ursache ist nicht völlig geklärt, wahrscheinlich hatten ihn die Nazis angesichts der nahenden amerikanischen Streitkräfte selbst angezündet.
Doch nach dem Brand waren nicht alle Teile unbrauchbar. Lokführer Gerhard K. überführte im Sommer 1945 den Unterbau des Waggons von Crawinkel nach Gotha. Hier wurde er im Schadwagenpark des Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW) auf der Südseite im so genannten Loch abgestellt. Gegen Ende der 1940er- Jahre, weiß ein anderer Lokführer zu berichten, wurde der Unterbau in das RAW gebracht und dort umgebaut. Es entstand ein schlichter Werkswagen für den Transport der Sauerstoffflaschen.
Nachdem aus dem RAW 1960 ein Landmaschinenbaubetrieb, später ein Traktoren- und Fahrzeugachsenwerk geworden war, wurde der Wagen nicht mehr gebraucht. Er wanderte wieder ins Loch für Wagenteile, die die Reichsbahn wegen möglicher Rechte ausländischer Bahnverwaltungen nicht verschrotten wollte.
Der Mangel an Transportgerät im Weichenwerk Gotha veranlasste einen Eisenbahner, sich Anfang der 70er-Jahre den Unterbau des Wagens genauer anzusehen. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine Hinweise auf die Herkunft des Fahrzeugs, abgesehen von einigen in den Achslagerdeckeln eingegossenen Buchstaben. Die aber konnte damals niemand deuten, sagt Günter Walter.
Der Wagen wurde mit neuen Querträgern und Planken versehen, im Traktorenwerk gereinigt und in den benachbarten Mitropawerkstätten lackiert. Er durfte laut Bauaufsicht nur auf den Gleisen des Weichenwerkes mit einer Höchstgeschwindigkeit von zehn Stundenkilometern verkehren. Wegen seiner weichen Federung erhielt der Werkswagen Nr. 17 bei den Arbeitern damals die Bezeichnung Kanapee.
Mitte der 80er-Jahre allerdings brach ein Langträger. Es war das endgültige Aus für das Fahrzeug. Auch das letzte Stück des berühmten Salonwagens von Compiegne wurde, so scheint sicher, 1986 im Weichenwerk Gotha verschrottet.
Im gleichen Jahr erschien in einem Arnstädter Heft zur Heimatgeschichte der erste Beitrag, der sich mit der Beziehung des Salonwagens zu Thüringen beschäftigte. Doch erst die Wende machte die Aufarbeitung des bisherigen Tabu-Themas wirklich möglich.
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