Wenn der DDR-Bürger nicht mehr weiter wusste, schrieb er eine Eingabe. 410 solche Beschwerden gingen 1989 beim Rat der Stadt Arnstadt ein, mehr als eine pro Tag. Sie erzählen von Mangelwirtschaft und Missständen, aber auch vom Selbstbewusstsein der Verfasser. Heute liegen diese Akten im Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt. Wenn man sie mit einem Abstand von 30 Jahren liest, geben sie einen interessanten Einblick in ein Land, das vor seinem Ende stand.
Am 3. Oktober 1989 schrieb ein Arnstädter an den Vorsitzenden des Rates des Kreises und schilderte seine Odyssee beim Versuch, eine Badewanne zu ergattern. Zuerst hatte er sich an den VEB Baustoffversorgung gewandt und die Auskunft erhalten, dort sei man nur für Eigenheimneubau zuständig. Badewannen für bestehende Gebäude gäbe es bei der Gebäudewirtschaft. Dort sagte man ihm, er solle sich doch bitte an einen privaten Klempner wenden. Bei einem Klempner in der Lessingstraße musste er erfahren, dass dieser Betrieb leider für 1989 keine Bilanzanteile für Badewannen erhalten habe. Daraufhin versuchte er es beim Kreisbauamt und schöpfte etwas Hoffnung, als er gebeten wurde, am ersten Dienstag im September dort persönlich zu erscheinen: Für das vierte Quartal stünde eine Zuteilung in Aussicht. Als er dies tat, erfuhr er allerdings, dass die erste Auskunft leider falsch gewesen sei, er solle es doch beim VEB Baustoffversorgung versuchen. „Somit war der Ring geschlossen“, heißt es in der Eingabe, „aber wo kriege ich denn nun meine Badewanne her?“ „Obwohl mir die gegenwärtigen Probleme bei der Bereitstellung von Badewannen bekannt sind, ersuche ich Sie, nochmals beim VEB Baustoffversorgung vorzusprechen“, antwortete der Vorsitzende des Rates des Kreises auf die Eingabe. „Ich bedaure, Ihnen keinen günstigeren Bescheid geben zu können“.
Das Badewannen-Debakel zieht sich durch zahlreiche Eingaben des Jahres 1989. Grund waren anhaltende Lieferengpässe des einzigen Badewannen-Herstellers der DDR in Lauchhammer. Es handelte sich keinesfalls um Edel-Produkte, sondern um einfache emaillierte Gusseisen-Wannen. Aber auch auf diesem Sektor funktionierte die Planwirtschaft nicht. Die Wannen gingen hauptsächlich in das Plattenbau-Programm – oder verschwanden in dunklen Kanälen.
So beschwerte sich im November 1989 ein Arnstädter, der im „Neuen Deutschland“ einen Beitrag über Willy Stophs Residenz gelesen hatte, darüber, dass er sich als einfacher Arbeiter seit vier Jahren die Hacken nach einer Badewanne wund laufe, und „die hohen Herren haben fünf Bäder und zehn Kühlschränke! Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“ Ein Dornheimer hatte schon länger eine Kammer zu einem Bad umgebaut, nur eine Badewanne bekam er seit mehreren Jahren nicht. „Bitte zeigen Sie mir einen Weg auf, damit wir und unsere Kinder auch einmal ein Bad nehmen können“.
Die Eingaben waren meist vergeblich. „Bleibt zu wünschen, dass Sie die benötigte Badewanne zur Verbesserung Ihrer Wohnqualität baldigst erhalten werden“, liest man in mehreren Antwortschreiben.
Nur in einem Fall war eine Badewannen-Beschwerde aus dem Jahr 1989 von Erfolg gekrönt. Offenbar dank der Initiative eines Mitarbeiters des Rates des Kreises war es tatsächlich gelungen, „zweckgebunden eine Badewanne für die Bürgerin bereitzustellen“, steht in einem Schreiben.
Der Einbau bei der Eingabenschreiberin im Arnstädter Floraweg erfolgte allerdings erst im April 1990. Es war das Jahr, als sich die Badewannensituation auch in Arnstadt sichtbar entspannte.
Kein Anschluss unter keiner Nummer
Am 31. März 1989 schrieb ein Mann aus Eischleben eine Eingabe an den Vorsitzenden des Rates des Kreises Arnstadt und forderte einen Telefonanschluss. Nicht für sich persönlich, das war so gut wie aussichtslos. Er wollte nur eine öffentliche Telefonzelle für den Ort. „In unserem Haushalt leben ein kleines Kind und ältere Menschen, da kann doch immer mal was passieren“, steht in dem Brief. Es gäbe zwar vier oder fünf Telefonanschlüsse im Dorf, aber die seien beim Bürgermeister, der Post oder dem Konsum. „Am Wochenende bleibt dann fast nichts mehr übrig“.
Die Antwort kam 14 Tage später. Die Einrichtung einer Telefonzelle sei zwar ein „wesentliches kommunalpolitisches Erfordernis“, schrieb der Vorsitzende des Rates des Kreises, aber aus „netztechnischen Gründen“ sei das „gegenwärtig noch nicht möglich“. Es gab einfach zu wenig Telefonleitungen und zu wenig Vermittlungsstellen. Und das, obwohl im Fernmeldewerk Arnstadt Vermittlungsanlagen hergestellt und in alle Welt exportiert wurden. Davon schrieb der Vorsitzende nichts. Aber er hatte wenigstens noch einen Tipp für den Eingaben-Schreiber: „Der Verwalter der postöffentlichen Fernsprechstelle in Eischleben ist in jedem Fall verpflichtet, bei außergewöhnlichen Vorkommnissen das Führen von Telefongesprächen auch außerhalb der Öffnungszeiten zu gewährleisten“.
Wie viele Eingaben im Jahr 1989 aus Arnstadt und Umgebung gemacht worden sind, ist schwer zu beziffern. Das liegt daran, dass es unterschiedliche Arten der Eingabe gab – und viele mögliche Adressaten. Die bekannteste Form war die „Staatsratseingabe“ direkt an den Genossen Honecker, aber man konnte seine Sorgen auch schriftlich bei der Volkskammer, den Parteien, den Räten der Bezirke und Kreise oder direkt beim Bürgermeister loswerden. Darüber hinaus gab es noch die mündliche Beschwerde bei einem Abgeordneten oder in einer Bürgersprechstunde. Aber auch Leserbriefe an die sozialistische Tagespresse wurden manchmal als Eingabe behandelt. Am Ende landeten sie immer bei der direkt zuständigen Stelle, mit der Aufforderung, über die Erledigung „nach oben“ in einem bestimmten Zeitfenster zu berichten.
410 solche Eingaben landeten laut Statistik 1989 bei den Fachabteilungen des Rates der Stadt Arnstadt, dazu kamen noch solche aus dem Kreisgebiet, die vom Rat des Kreises und den zuständigen Stadt- und Gemeinderäten bearbeitet wurden.
Inhaltlich beschäftigten sich die meisten mit dem Mangel. Es fehlte an so vielem in der DDR, an Wohnungen, Baustoffen, Ersatzteilen und „Waren des täglichen Bedarfs“. Nicht in jedem Fall wurde gleich eine Eingabe geschrieben, oft versuchte man es mit Tauschgeschäften. Wer in einer Autowerkstatt arbeitete, konnte sich besser Fliesen beschaffen. Aber auch die Fleischereifachverkäuferin hatte gute Chancen, für einen Extra-Schinken unter dem Ladentisch ein Ersatzteilproblem zu lösen. Arm dran waren vor allem die normalen Arbeiter, die zwar theoretisch in der DDR die „führende Rolle“ einnahmen, aber nichts zum Tauschen anzubieten hatten. Und so verwundert es nicht, dass aus dieser Schicht die meisten Eingaben kamen.
Wohnungsnot
Man konnte sich in der DDR nicht einfach eine Wohnung mieten oder vermieten, Wohnungspolitik war staatlich gelenkt. Entsprechend groß war die Zahl der Wohnungseingaben.
Im April 1989 schrieb eine Familie aus Arnstadt an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker: „Wir sind vier Personen und haben eine Zweiraumwohnung. Mein Mann und ich schlafen auf einer Couch im Wohnzimmer, im Kinderzimmer wimmelt es von Ameisen. Im Bad ist der Fußboden durchgebrochen und im Bad kommt uns die Wand entgegen. Wir hatten schon die Fürsorge hier und die haben gesagt, dass das keine Zustände sind.“
Es ist nicht der einzige Fall, der betroffen macht. Ein Berufskraftfahrer wohnte mit seiner Frau und einem kleinen Kind in einem Zehn-Quadratmeter-Zimmer. „Wir wissen nicht, wo wir das Kinderbett hinstellen sollen“, schreibt er verzweifelt. Viele junge Familien hatten gar keine gemeinsame Wohnung. „Meine Frau bewohnt mit unserem Kind in Leipzig ein halbes Zimmer, ich habe hier in Arnstadt ein Zimmer bei meiner Mutter“, heißt es in einer Eingabe an die SED-Kreisleitung. Eine alleinstehende Mutter wohnte mit ihren Zwillingen in einem etwas abgelegenen Haus in Arnstadt, das zwar genügend Platz hatte, aber keinen Wasseranschluss. Das Wasser aus dem vorhandenen Brunnen war vom Gesundheitsamt als nicht zum Trinken geeignet eingestuft worden, aber selbst zum Waschen taugt es offenbar nicht: Die Kinder bekamen davon Ausschlag.
Wenigstens in diesem Fall wurde eine Lösung gefunden, die kleine Familie bekam eine Wohnung an der Setze angeboten. Aber meistens enthielt das Antwortschreiben die Formulierung, man bemühe sich, die Eingabenschreiber im Jahr 1990 oder danach in den Vergabeplan aufzunehmen.
1990 sollte eigentlich das Wohnungsproblem der DDR gelöst sein, das hatte Erich Honecker 1973 zum Start des Plattenbau-Programms versprochen. Doch die Wirklichkeit in der Wendezeit sah anders aus. „Unserer Fachabteilung Wohnungspolitik liegen zur Zeit über 300 Anträge von Bürgern vor, die keinen eigenen Wohnraum haben“, schrieb der Arnstädter Bürgermeister in einer Antwort auf eine Eingabe. Von insgesamt über 2000 Wohnungsanträgen seien 891 als „sozial dringlich“ eingestuft. Und seit 1988 waren keine neuen Plattenbau-Wohnungen in der Stadt fertig geworden, man musste „mit dem Bestand arbeiten“.
Der Bestand allerdings war oft in einem bemitleidenswertem Zustand. Mehreren Eingabenschreibern wurden so genannte „Ausbauwohnungen“ angeboten, die erst in Eigenleistungen bewohnbar gemacht werden sollten. Einer beschwerte sich daraufhin, dass von den Zimmern nur eines beheizbar sei und die beiden anderen keinen Schornsteinanschluss hätten. Ausbauen war zudem eine schwierige Sache, denn Baumaterial war nur schwer zu bekommen. Fast alles, was hergestellt wurde, war für den Plattenbau bestimmt – oder ging unter der Hand weg.
Schaltknopf nur mit Fernseher
Im September 1989 merkte ein Arnstädter, dass an seinem Fahrrad das Rücklicht defekt war. Als er ein neues kaufen wollte, stellte er fest: Es gab keins. Also schrieb er eine Eingabe an den Rat der Stadt. Die Konsumgenossenschaft, der die Eingabe zur Klärung übergeben worden war, antwortete so:
„Wir haben weder im August noch im September das gewünschte Ersatzteil erhalten, obwohl in beiden Monaten jeweils 100 und 300 Stück bestellt wurden. Durch leitungsseitige Maßnahmen und Rücksprachen mit dem zuständigen Lieferer (IFA-Vertrieb Erfurt) erhielten wir im Oktober von 300 bestellten Rückleuchten 50 Stück. Dies reichte natürlich keineswegs zur Bedarfsdeckung unserer Kunden aus. Wir möchten Sie bitten, ständig in unserer Verkaufsstelle nachzufragen, ob dieses Ersatzteil eingegangen ist.“
Mit Ersatzteilen war es wirklich eine Katastrophe in der DDR. Zum Beispiel mit Ventilen für den Spülkasten der Toilette. Einer Arnstädterin, deren Spülkasten ständig lief und sogar schon die Auslegware ruiniert hatte, teilte der HO-Kreisbetrieb im November 1989 mit, dass seit drei Jahren so gut wie kein Spülkastenventil in Arnstadt zu haben gewesen war: „Seit 1986 erhielten wir im Juni dieses Jahres zum ersten Mal wieder eine geringe Menge an Spülkastenventilen und konnten die Versorgung für eine Woche absichern. Eine Überprüfung der Bestände ergab, dass derzeit kein einziges Spülkastenventil am Lager ist.“
Um das leidige Problem vielleicht dennoch lösen zu können, machte die HO noch einen Vorschlag. „Sie möchten bitte das ausgebaute Ventil in der Verkaufsstelle Eisenwaren in der Triniusstraße vorlegen. Der VST-Leiter wird dann prüfen, ob im Inneren das Plastteil defekt ist, denn hierzu sind Ersatzteile auf Lager. Sollte es sich um einen anderen Defekt handeln, sind unsere Möglichkeiten ausgeschöpft.“
Aber es fehlten nicht nur Ersatzteile. Auch mit der Energie war es mitunter schwierig. Bewohner eines Hauses bei Arnstadt wandten sich im März 1989 an den Rat des Kreises, weil die Spannung in ihrem Elektronetz viel zu gering war. Statt der versprochenen 220 Volt kamen dort nur 160 bis 170 Volt an: „Die Leuchtstofflampen zünden nicht und die Glühlampen leuchten wie Kerzen“. Die Waschmaschine ginge drei bis vier Mal pro Jahr kaputt, auf dem Elektroherd konnte man nicht kochen.
Zur Stabilisierung der Stromversorgung sei ein Elektroschaltschrank erforderlich, „der zur Zeit nicht vorhanden ist“, antwortete der Ratsvorsitzende. Nach der Lieferung des Schrankes werde dieser sofort installiert. Wann die Lieferung erfolgen würde, darauf wollte sich der Vorsitzende nicht festlegen.
Auch Koks war knapp. Ein Schwerbeschädigter aus Crawinkel bat im März 1989 darum, ihm ein ständiges Kokskontingent für seine Heizung zuzuteilen, schließlich hatte er für die vergangene Heizperiode auch Koks bekommen. Nach den geltenden Bestimmungen sei ein Dauerkontingent nur für bestimmte Heizungsanlagen möglich, wurde ihm beschieden. Seine Heizung gehöre leider nicht dazu. Er könne aber als Schwerbeschädigter jedes Jahr einen neuen Antrag stellen, „um Sie aus dem Fonds für soziale Härtefälle zu versorgen. Eine andere Möglichkeit besteht nicht.“
Mehrere Eingaben beschäftigen sich mit langen Wartezeiten bei der Reparatur von Elektrogeräten. Ein Mann wartete sieben Wochen auf die Instandsetzung seines Heißwasserboilers, zwei Frauen beschwerten sich, weil ihre Staubsauger nach acht Wochen noch immer nicht wieder zurück waren. In allen Fällen konnte man – durch den Druck der Eingabe – die Reparaturzeit etwas verkürzen, aber die anderen Kunden warteten weiter.
Wegen eines besonders skurrilen Falles wandte sich ein Arnstädter am 11. Juni 1989 an den Rat der Stadt. An seinem Fernsehgerät „Ines“ war der Schaltknopf für den Kanalwähler kaputtgegangen und er wollte im Fernsehgeschäft in der Rankestraße einen neuen kaufen. Dort verwies man ihn an eine Vertragswerkstatt an der Riedmauer, die für Ersatzteile zuständig sei. In der Werkstatt erfuhr er, dass dort keine Ersatzteile verkauft würden. Er könne aber den Fernseher vorbeibringen – dann würde man einen neuen Kopf anschrauben. „Ich glaube, dass das reif ist für die Bürger von Schilda, aber nicht von Arnstadt“, schrieb er in seine Eingabe. Die Sache ging gut aus. Er durfte „ausnahmsweise“ einen Schaltknopf kaufen – und es wurde sogar darüber nachgedacht, für alle Arnstädter einen „Ersatzteil- und Kleinstmaterialverkauf einzurichten“.
Fliesen und Steine
Ein Kapitel für sich war der Mangel an Dingen, die man zum Bauen oder Renovieren brauchte. So hatte ein Stadtilmer 1986 bei der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft (BHG) Fliesen für sein Bad bestellt und bekam zwei Jahre später die Nachricht, er könne seine Fliesen am 29. Dezember 1988 abholen. Er nahm für diesen Tag Urlaub und stellte sich bereits um fünf Uhr an, um eine ausreichende Auswahl zu haben. Als die BHG um acht Uhr öffnete, war allerdings nur eine Sorte da: braune Fußbodenfliesen, wie sie der DDR-Bürger aus vielen Bädern und Küchen kannte und verabscheute. Entweder er nähme das, was da war, eröffnete ihm der Verkäufer, oder seine Bestellung würde verfallen. „Da wir als DDR eines der höchstentwickelten Länder der Welt sind, kann ich nicht verstehen, dass ich für solche Konsumgüter jahrelang warten muss und dann nur eine Sorte angeboten bekomme“, schrieb der Schichtleiter in seiner Eingabe vom 12. April 1989 an den Staatsratsvorsitzenden.
Der konnte ihm allerdings auch nicht helfen. Es fand eine Aussprache mit der stellvertretenden Leiterin der Abteilung Handel und Versorgung statt, deren Ergebnis in der schriftlichen Antwort zusammengefasst wurde. „Eine Zusage zur Realisierung ihrer Bestellung konnten wir Ihnen zum Zeitpunkt der Aussprache nicht geben“, so der Ratsvorsitzende. „Entsprechend unseren Möglichkeiten werden wir versuchen, Ihrem Anliegen entgegenzukommen“.
Mehr Glück hatte ein Arnstädter, der sein Einfamilienhaus zur Nutzung für zwei Familien in Eigenleistung umbauen wollte. Die Baugenehmigung lag vor, um an Dachziegel zu kommen, hatte er eine Woche Urlaub genommen und im Dachpappenwerk Coswig gearbeitet. Ähnlich lief es mit dem Bauholz, auch dafür hatte er Urlaub genommen und im Sägewerk gearbeitet. Was nun noch fehlte, waren 350 Gasbeton-Steine, die nirgends zu bekommen waren. Also schrieb er eine Eingabe an den Rat des Bezirkes, bekam allerdings zwei Monate lang keine Antwort. Als er daraufhin beim Bezirksbauamt anrief, bekam er die lapidare Antwort, die Zuweisung der Steine sei „aufgrund der Nichtbilanzierung nicht möglich“. Der verhinderte Bauherr ließ aber nicht locker und schrieb am 23. Mai eine Eingabe an den Staatsrat. Nicht wegen der Steine, sondern „wegen Unterlassung der Beantwortung meines Schreibens durch den Rat des Bezirkes“.
Was sich danach zwischen Berlin und Erfurt abgespielt haben mag, ist in den Akten nicht enthalten, aber wahrscheinlich haben die Berliner den Erfurtern wegen dieses eklatanten Verstoßes gegen das Eingabengesetz gehörig den Kopf gewaschen. Jedenfalls erhielt der Arnstädter kurze Zeit später seine 350 Gasbetonsteine. Die Eingabe konnte als erledigt abgeheftet werden.
Doch nicht nur Privatleute hatten Probleme mit fehlenden Baukapazitäten. Ein Bewohner der neu errichteten Plattenbauten an der Arnstädter Weiße beschwerte sich darüber, dass lange nach dem Bezug noch immer keine richtigen Wege und Grünanlagen vorhanden seien. In der Antwort des Wohnungsbaukombinats wurde ihm versichert, die entsprechenden Arbeiten würden im ersten Halbjahr 1989 abgeschlossen.
In einer Aussprache zwei Monate später musste diese Aussage aber korrigiert werden. 1989 könne es leider keine ordentlichen Wege und Anlagen mehr geben. Der beauftragte Betrieb sei leider zu Gunsten eines anderen Projektes abgezogen worden. Auf Weisung von oben.
Abgelaufen
In einer Eingabe an den Rat der Stadt Arnstadt schilderte eine Anwohnerin am 27. Februar 1989, was ihr beim „Einkaufsbummel“ durch die Arnstädter Feldstraße und die Innenstadt passiert war. Wenn man ihren Brief heute liest, ist man verwundert, wie viele Läden es damals gab – und wie wenig zu kaufen:
„Die Drogerie in der Feldstraße hatte aus technischen Gründen geschlossen, der Blumenladen gleich nebenan war ebenfalls geschlossen, ohne Angabe von Gründen. Im Gemüseladen wollte ich ein Kilogramm Äpfel kaufen, um meinem Kind wenigstens eine kleine Vitaminbeigabe mit in den Kindergarten geben zu können. Leider hatte man die nicht. Auch vergangene Woche waren schon keine Äpfel im Angebot.
Für einen Salat brauchte ich einen Becher Mayonnaise. Da der Lebensmittelladen in der Feldstraße geschlossen ist, ging ich in den Selbstbedienungsladen der gleichen Straße. Aber auch hier erhielt ich keine Mayonnaise. Mein Weg führte mich dann ins ‚Center‘, wo mir gesagt wurde, dass es in der ganzen Stadt keine Mayonnaise gäbe. Im Gemüseladen in der Bahnhofstraße erhielt ich den vorletzten Beutel Äpfel (welch eine Freude!).
In der Verkaufsstelle für Molkereierzeugnisse in der Bahnhofstraße startete ich meinen letzten Versuch, einen Becher Mayonnaise zu erstehen. Die Verkäuferin dort war zwar sehr freundlich, aber helfen konnte sie mir auch nicht.
Nun frage ich Sie: Ist das denn normal?“
Natürlich war das nicht normal, das wusste auch die Abteilung Handel und Versorgung beim Rat der Stadt. Schließlich gingen dort nicht nur ständig Eingaben zur schlechten Versorgungslage ein, auch in den öffentlichen Sprechstunden der Abgeordneten gab es regelmäßig Kritik.
Ein Abgeordneter notierte auf einer Versammlung im Bahnbetriebswerk: „In der Verkaufsstelle in der Karl-Liebknecht-Straße gibt es nach 16.30 Uhr kein Brot und keine Milch mehr. In der Feldstraße gibt es eventuell nur Montags früh Feinfrosterzeugnisse, Gemüsekonserven nur donnerstags. Das Gemüseangebot ist sehr mangelhaft, die Frauen fragen nach Porree, Grünkohl, Spinat, Möhren und Chicoree…“. Weitere Eingaben beklagen die mangelnde Versorgung mit Diäterzeugnissen oder die fehlende Auswahl an Brotsorten.
Eine Handels-Eingabe beschreibt unter diesen Bedingungen fast ein Luxus-Problem. Ein Arnstädter hatte im Delikatess-Laden auf dem Holzmarkt im Januar 1989 eine Flasche Eierlikör für 26 Mark gekauft. Daheim stellte er fest, dass die Flasche das Verfallsdatum vom 30. Oktober trug, also über zwei Monate überfällig war. Im Laden bekam er leider keine andere Flasche. Alle hatten das Ablaufdatum überschritten.
Erstaunt musste der Kunde allerdings ein paar Tage später feststellen, dass die abgelaufenen Flaschen noch immer im Laden standen. Nur das Verfallsdatum war durch einen Stempel unkenntlich gemacht.
Nach der Eingabe wurde die Verkaufsstelle kontrolliert und der Verstoß bestätigt. „Die Verkaufsstellenleiterin hat es versäumt, gewissenhaft die Verfallstage zu kontrollieren“, stellte die Abteilung Handel und Versorgung fest. Aus dem Antwortschreiben wird aber zugleich deutlich, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte: „Als Kontrollorgan stellen wir laufend fest, dass durch den Großhandel Ware mit überfälligen Verbrauchsfristen angeliefert wird.“
Der verweigerte SED-Eintritt
Die politisch interessanteste Eingabe stammt vom 22. Juni 1989. Darin schrieb eine junge Frau an den Genossen Honecker mit der Bitte, ihr den sofortigen Eintritt in die SED zu ersparen. Sie hatte im Arnstädter Rathaus im März 1989 eine Stelle angetreten und beim Einstellungsgespräch auch zugestimmt und unterschrieben, dass sie in die SED eintreten werde. Allerdings brauche sie dafür noch etwas Zeit, fügte sie damals mündlich hinzu. Anfang April legte ihr der Parteisekretär ein Aufnahmeformular auf den Tisch. Als sie dies bis Juni nicht ausgefüllt hatte, wurde sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie trete jetzt ein – oder sie müsse sich eine andere Arbeit suchen. So steht es in ihrem Brief an Erich Honecker.
„Unsere Partei soll doch durch freiwillige Eintritte gestärkt werden und nicht durch unter Druck gesetzte Menschen“, heißt es in der Eingabe. Die junge Frau bezweifelt darin, dass es ein Gesetz gibt, „was besagt, dass man entlassen wird, wenn man nicht in die Partei eintritt“.
Natürlich gab es kein solches Gesetz. Und natürlich hieß es offiziell immer, dass jedes SED-Mitglied stolz und freiwillig eingetreten war. Was die junge Frau erlebt hatte, war aber gängige Praxis. Ihre Eingabe brachte die Verantwortlichen in eine schwierige Lage. Es war so wie im Märchen: Da hatte plötzlich jemand „Der Kaiser ist nackt“ gerufen.
Überraschend wie die Eingabe selbst ist auch der Ausgang der Sache. „Ich vertrete den Standpunkt, dass wir aus arbeitsrechtlichen Gründen das bestehende Arbeitsrechtsverhältnis aufrechterhalten sollten“, schrieb der Arnstädter Bürgermeister in seiner Stellungnahme. Alles andere würde sich schon durch einen „ständigen politischen Erziehungsprozess“ ergeben. Ob es so kam, geht aus den Akten nicht hervor. Sicher ist nur, dass die Möglichkeiten des politischen Erziehungsprozesses nicht mehr sehr lange gegeben waren.
Interessant ist auch, wie die Behörden 1989 mit Ausreisewünschen umgingen. So bat eine Frau in einer Sprechstunde des Vorsitzenden des Rates des Kreises darum, ihren Sohn nach dem Westen ausreisen zu lassen. Sie sei der Meinung, man solle Jugendlichen die Möglichkeit geben „alles kennenzulernen“. Der Vorsitzende machte zwar den Vorschlag, sie solle doch ihren Sohn vom Hierbleiben überzeugen, sagte aber zugleich, dass er als Vertreter der Staatsmacht keine Möglichkeit habe, „in dieser Angelegenheit (Ausreise) zu helfen“.
Es gab aber auch andere Sichten auf ausreisewillige DDR-Bürger. Am 8. November 1989, einen Tag vor dem Mauerfall, wandte sich ein Arnstädter an die Volkskammer und forderte „die sofortige Beendigung der Fürsorge für Übersiedler“. Hintergrund war, dass Wohnungen von nach dem Westen ausgereisten DDR-Bürgern zunächst nicht angetastet wurden. „Als Abschiedsgeschenk bekommen Bürger der DDR ihre Wohnungen mit auf den Weg, während tausende Bürger, die bereit sind, für die Erneuerung in diesem Lande zu arbeiten, der Lösung ihres Wohnungsproblems harren“, heißt es in der Eingabe.
Als Vorboten der neuen Zeit kann man einige Eingaben von 1989 werten, in denen Bürger Eigentumswohnungen in Arnstadt kaufen wollten. Sie erhielten immer die gleiche Antwort: Dafür gäbe es bisher keine Rechtsgrundlage.
Und noch ein Vorbote dessen, was da kommen sollte: In der letzten Eingabe an den Rat des Kreises Arnstadt im Jahr 1989 beschwerte sich eine Rentnerin darüber, dass alles teurer werde. Für ein Kilo Rosenkohl habe sie gerade 2,35 statt der bisher üblichen 1,70 Mark bezahlt. „Mir ist vollkommen bewusst, dass sich ein Teil der Preise ändern wird, auch für Grundnahrungsmittel“, schrieb sie. Aber man solle doch die Leute offen darüber informieren, damit man „nicht wie in der BRD von Laden zu Laden laufen muss, um die Preise zu vergleichen“. Im Übrigen fordere sie, falls auch Kartoffeln teurer würden, eine deutlich bessere Qualität: „Nicht dass man wie bisher Schweinefutter angeboten bekommt“.
Selbstbewusste Töne
Nur in wenigen Schreiben wird ein devoter Ton angeschlagen wie in dem eines Arztes, der auf seine Verdienste bei der Stärkung der Wehrbereitschaft durch die häufige Untersuchung von Wehrpflichtigen hinweist. Bei einigen Wohnungseingaben spürt man den hohen Grad der Resignation durch jahrelanges Hinhalten Aber besonders beim Anprangern von Versorgungslücken ist der Ton manchmal regelrecht aufmüpfig.
„Wenn ich die Zeitung der sozialistischen Einheitspartei, der sie angehören und für die kandidieren, lese, gehen mir die Augen über angesichts der Erfolge, die darin geschildert werden“, beginnt ein Arnstädter seine Eingabe vom 19. April 1989 an den Bürgermeister und den Ratsvorsitzenden des Kreises. Nur bei ihm sei diese erfolgreiche Entwicklung noch nicht angekommen. Die Fenster, die er dringend brauche, würden ihm seit Jahren verweigert, obwohl er auf der Warteliste stünde. Und er fragte zugleich, wo denn der Herr Bürgermeister und der Ratsvorsitzende ihre offenbar neuen Fenster her hätten?
Das war eine „Wahleingabe“, im Mai 1989 fanden Kommunalwahlen statt. Wahleingaben wurden extra erfasst und ihre Erfüllung besonders kontrolliert. In den Akten finden sich für 1989 aber kaum Belege, dass die Bürger versuchten, ihre Stimme als Druckmittel gegen die Obrigkeit einzusetzen. Auch im zitierten Fall nicht. Der Mann wollte nur neue Fenster. Ob nun vor oder nach der Wahl, war ihm egal.
Deutliche Worte gegen die Staats- und Parteimacht findet man sehr häufig. „Wenn ich wüsste, wo ich eine Überprüfung der Staatsreserven beantragen kann, würde ich es tun“, heißt es in einer Eingabe an Erich Honecker wegen fehlenden Baumaterials vom 23. September 1989. „Im Kreis schießen die Gartenhäuser auch von den leitenden Genossen aus dem Boden, wo bekommen diese Leute bloß ihr Baumaterial her?“
„Bisher haben wir immer mehr als unsere Pflicht getan und ich denke, es ist endlich an der Zeit, dass der Staat für uns menschenwürdige Zustände schafft“, steht in einer Wohnungseingabe vom 2. Januar 1989. „Von mir wird täglich höchste Arbeitsleistung gefordert, die ich auch erfülle“, schrieb ein Stadtilmer in seine Eingabe. „Ich möchte für mein Geld wenigstens das kaufen, was meinen Vorstellungen in etwa entspricht“.
Sicher geben die Eingaben kein vollständiges Bild der Lage in Arnstadt und Umgebung im Jahr 1989 wider. Wer keine Probleme hatte oder an der Quelle saß, schrieb keine Beschwerdebriefe. Aber die Zahl der Unzufriedenen war hoch – und sie waren nicht bereit, sich mit ihrer Lage abzufinden. Wer die Eingaben liest, versteht etwas besser, warum es nicht so weitergehen konnte damals in der DDR. Das Land war einfach am Ende.
Quelle der Akten: Stadt- und Kreisarchiv Arnstadt
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